Die Schuldgefühle, die syrische Revolutionäre umtreiben

"Ich fühle mich nicht schuldig, denn ich weiß, dass das Aufbegehren gegen ein Regime, das gewillt ist, beliebig viele Menschen zu töten das Richtige ist."

AntiNote: Dieser Text erschien zum fünften Jahrestag der syrischen Revolution.

Die Schuldgefühle, die syrische Revolutionäre umtreiben
von Haid N. Haid für The New Arab
12 März 2016 (original post in English)
aus dem Englischen übersetzt von Bente Scheller für die Website der Heinrich Böll Stiftung
29 März 2016 (Originalerscheinung auf Deutsch)

Es begann mit einer Revolution. Mittlerweile sind fast eine halbe Million Menschen im Syrienkrieg gestorben. Ist das alles die Schuld der Revolutionäre? Über das Überleben und die Frage nach Schuld.

“Kann es sein, dass der ‘Islamische Staat’ und andere Gruppen unseretwegen entstanden sind?” fragt Ziad, ein Syrer in dem Dokumentarfilm “Our Terrible Country”, einem Film über den nunmehr fünfjährigen Krieg in Syrien. Das hat bei einer Veranstaltung an der London School of Economics, wo ich letzte Woche auf dem Podium saß, zu einer Reihe ähnlicher Fragen geführt.

Ich war überrascht, dass viele Leute – alles keine Syrer – wissen wollten, ob sich Syrer dafür schuldig fühlen, die Revolution überhaupt begonnen zu haben, die zu fünf Jahren der Gewalt in Syrien und über 470.000 getöteten Menschen führte. Einige von ihnen zitierten sogar syrische Freunde, die Zweifel und Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht hätten, ob die Revolution es wert gewesen sei, den Preis zu zahlen, den es für das ganze Land bedeutet hat.

Ich war überrascht, denn es war das erste Mal seit Beginn der Revolution, deren Jahrestag sich in der vergangenen Woche zum fünften Mal jährte, dass ich gefragt wurde, ob ich mich schuldig fühle, weil ich mich gegen das Regime von Bashar al-Assad erhoben habe.

Oh Daraa!

Viele Syrer hegen gemischte Gefühle bezüglich der Revolution, insbesondere diejenigen, die geliebte Menschen in diesem Krieg verloren haben. Selbst der berühmte Slogan der Solidarität mit der Stadt, in der der Aufstand gegen das Regime begann, hat sich verändert: Aus “Oh Daraa, wir stehen bis zum Ende an deiner Seite” ist geworden “Oh Daraa, was hast du dir nur dabei gedacht, diesen Alptraum zu entfesseln?”

Obwohl das zunächst scherzhaft gesagt wurde, um Daraa zu “beschuldigen”, die Proteste 2011 ausgelöst zu haben, von wo aus die Revolution ihren Lauf nahm, nehmen manche Leute diese verballhornte Version mittlerweile ernst. Diese Schuldgefühle sind dem sogenannten Überlebensschuld- oder Holocaust-Syndrom ähnlich. Es entwickelt sich, wenn Menschen traumatische Ereignisse überlebt haben, während andere aus ihrem nächsten Umfeld getötet wurden. Dabei handelt es sich hauptsächlich um zwei Arten der Schuldgefühle: Einige bedauern, dass sie nicht mehr getan haben. Andere fühlen sich schuldig für das, was sie getan haben. Diese Gefühle haben unterschiedliche Gründe und sind von unterschiedlicher Intensität, manchmal überlagern sie sich auch.

Diejenigen, die sich schuldig fühlen, dass sie die Revolution angestoßen haben, sehen in ihr den Hauptgrund für die katastrophalen Entwicklungen in Syrien. Was man oft von Leuten hört, die dieses Schuldgefühl teilen, ist: “Syrien könnte immer noch so sein wie vorher, wenn wir uns einfach mit der Situation hätten abfinden können.”

Nour, eine Studentin aus Daraa sieht es so:

“Ich denke jeden Tag darüber nach, wie mein Leben in Syrien wäre, wenn wir die Revolution nicht vom Zaun gebrochen hätten. Ich verurteile die Revolution nicht, aber wir haben alles verloren, was wir hatten. Zwei meiner Brüder sind tot, unser Haus ist zerstört und wir leben jetzt in einem Zelt in Jordanien.”

Andere fühlen sich schuldig, dass sie nicht mehr dafür getan haben, dass sich die Revolution ihren Zielen treu geblieben ist. Diese Gefühle reichen davon, dass sie tatenlos zugehsehen hätten, wie die Revolution bewaffnet fortgeführt wird, bis hin dazu, dass sie nicht verhindert haben, dass Opportunisten und Extremisten die Revolution für sich beansprucht hätten.

Reem, eine Aktivistin des gewaltfreien Widerstands in Damaskus, glaubt, dass alles besser gelaufen wäre, wenn die syrische Revolution friedlich weitergegangen wäre.

“Bis zum heutigen Tage diskutiere ich mit meinen Freunden all das, was hätten wir  tun können, um die friedliche Revolution zu bewahren. Ich weiß, dass es keine freie Entscheidung war, zu den Waffen zu greifen und dass viele gezwungen waren, sich zu verteidigen, aber dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass wir mehr hätten tun können, um zu verhindern, dass die Revolution sich in einen bewaffneten Konflikt verwandelt.”

Nicht genug unternommen zu haben, um Extremisten davon abzuhalten, die Revolution für sich zu beanspruchen, treibt Reem am meisten um:

“Ich bedauere, dass wir nicht genug unternommen haben, um diejenigen, die sie nur für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren wollten, davon abzuhalten. Wir waren so naiv zu denken, dass wir allein durch unsere Opposition zum Regime gewinnen könnten, dabei waren diejenigen, die sich der Revolution für ihre eigenen Zwecke bemächtigt haben, genauso verheerend.”

In diesem Kontext haben viele Syrer, die die Übergriffe des Regimes überlebt haben, angefangen, die Schuld bei sich zu suchen. Das ist Ausdruck der Qual, die viele Überlebende gewalttätiger Auseinandersetzungen verspüren, und die dazu führt, dass Opfer dazu neigen, die Schuld bei sich und nicht etwa denjenigen, die Gewalt ausüben, zu suchen. Syrer/innen haben lediglich ihre Grundrechte eingefordert, als sie auf die Straße drängten, um an friedlichen Protesten teilzunehmen. Es war die unmäßige Gewaltanwendung des Regimes, die zu dieser grauenhafte Spirale der Gewalt und schließlich zu der fürchterlichen Situation heute in Syrien geführt hat.

Außerdem hat das Assad-Regime bewusst Tausende von Extremisten aus den Gefängnissen freigelassen, während es gleichzeitig fortfuhr, friedliche Aktivist/innen zu töten und zu verhaften. Das Regime hat auch zugelassen, es sogar gefördert, dass ISIS, die Nusra-Front und andere extremistische Gruppen sich gründen konnten, damit es letztlich wie bei einer Entscheidung zwischen einem größeren und einem kleineren Übel besser dastehen könnte.

Dass man diese Schuldgefühle anerkennt, heißt nicht, dass man die Fehler beiseite wischt, die Aktivist/innen, die Oppositionsgruppen und ihre Verbündeten gemacht haben. Und doch waren es nicht ihre Fehler, die Syrien in diese heutige schreckliche Situation gebracht haben. Die Gefühle der Betreffenden muss man als Symptom der traumatischen Gewalt verstehen, die sie erfahren haben, und doch ändert es nichts daran, dass das Assad-Regime und seine Unterstützer letztlich diejenigen sind, die die Verantwortung für den hohen Blutzoll tragen, den die Syrer dafür zahlen, eine bessere Zukunft gewollt zu haben.

“Ich fühle mich nicht schuldig, denn ich weiß, dass das Aufbegehren gegen ein Regime, das gewillt ist, beliebig viele Menschen zu töten, nur damit es an der Macht bleiben kann, das Richtige ist.”

Das ist meine Antwort auf die Frage.

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