Interview mit Alain Badiou von Khusraw Mostafanejad für die Papierlose Zeitung (Zürich)
27 Oktober 2015 (Originalpost)
Khusraw Mostafanejad: Wie ist Ihr erster Eindruck von der Autonomen Schule in Zürich?
Alain Badiou: Es ist eine starke Erfahrung, wirklich. Das hier ist etwas, wovon ich in Frankreich viele Versuche kenne: einen neuen Raum für Zugewanderte, Arbeiter etc. zu kreieren. Aber ich denke, die Autonome Schule ist in einem gewissen Sinn etwas Neues: So viele Menschen aus verschiedenen Ländern der Welt sind hier zusammen. Frankreich ist ein altes Kolonialland, deshalb kommen viele Leute aus den alten Kolonien in Nordafrika und der Subsahara nach Frankreich. Aber hier ist die ganze Welt versammelt.
KM: Haben Sie je versucht, eine solche Schule in Frankreich zu gründen?
AB: Nicht wirklich. Es gab kleine Versuche. Wir haben versucht, in Frankreich freie Räume zu schaffen, aber diese waren politische Schulen im engen Sinn: Orte, wo wir mit Arbeitern politische Fragen diskutiert haben. Aber sie waren kleiner, keine Schulen wir die eure, nicht so international und umfassend.
KM: Wie können Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund eine gute Integration schaffen?
AB: Meiner Meinung nach ist Integration kein gutes Wort. Ich habe keine Regel für Integration. Die Idee der Integration ist zuerst einmal selektiv: Es gibt gute Zuwanderer, die sich integriert haben, und es gibt schlechte Zuwanderer, die dies nicht tun. So wird Integration zu einer Art Prüfung für die Güte der Zuwanderer. Aber was ist Integration? Wenn jemand hierherkommt, hier arbeitet, Französisch lernt… Doch sobald der Staat Regeln der Integration definiert, werde ich misstrauisch. Wenn wir Regeln haben, haben wir neue Gründe, Fremde nicht zu akzeptieren. Natürlich ist es sehr nützlich, die neue Sprache zu lernen, die neue Kultur kennenzulernen. Aber das Konzept der Integration ist politisch verdächtig.
KM: Welche Rolle spielt die Sprache, wenn sich Menschen näherkommen wollen?
AB: Die Frage der Sprache ist die richtige Frage. In meinem Leben als Aktivist habe ich sie oft angetroffen. Die Notwendigkeit, sich zu verständigen, liegt auf beiden Seiten. Beide Seiten müssen etwas tun. Auch die französischen Bürger haben die Aufgabe, die Möglichkeit/Grundlage der Diskussion zu schaffen, nicht nur die Zugewanderten. Du kannst auch die Sprache der Fremden lernen. Du kannst Übersetzungen organisieren. Das ist die Aufgabe aller, nicht nur der Fremden.
KM: Und wie funktioniert die Integration der Sprachen? Welche Art von Sprachen haben wir dann?
AB: Normalerweise wird erwartet, dass es eine gemeinsame Sprache gibt. Doch das Beste ist es, wenn jeder in seiner eigenen Sprache sprechen kann und korrekt übersetzt wird – damit es für niemanden unmöglich ist, sich zu äussern. Wir müssen die Schwierigkeiten akzeptieren. Wenn wir nur das Mögliche tun, tun wir nicht genug.
KM: Wem gehört Bildung?
AB: Bildung ist keine Beziehung, die nur in eine Richtung geht: Jemand bildet jemanden. Bildung geht immer in beide Richtungen: Wenn jemand jemandem etwas beibringt, lernt auch er oder sie selber etwas Neues. Selbst wenn ich einem Fremden etwas beibringe, werde ich von ihm gebildet. Ich lerne etwas über seine Sicht auf die Welt. Alle gemeinsame Arbeit ist eine Beziehung in beide Richtungen.
KM: Wie kann die Autonome Schule die Schweizer Asylpolitik verändern?
AB: Der Besuch der ASZ ist die erste Erfahrung mit diesem Aspekt für mich, mit dieser Orientierung und diesem Ergebnis. Alles, was die ASZ tut, ist aussergewöhnlich. Ich weiss, dass ihr auch grosse Probleme habt und hoffe sehr, dass ihr neue Räume finden werdet.
KM: In Ihrer Philosophie sprechen Sie auch von Mut. Immigranten haben oft Angst vor den Regierungen. Wie können sie Mut bekommen?
AB: Die Möglichkeit, Mut zu bekommen, ist mutig zu sein. Es gibt keinen anderen Weg. Die Sichtbarkeit von Mut ist wichtig. Wenn jemand einen anderen sieht, der mutig ist, versteht er, was Mut ist. Wir müssen Mut lernen. Der fundamentale Punkt ist, jemanden zu sehen, der mutig ist. Es ist eine Frage der Erfahrung. Du kannst die positive Erfahrung von Mut weitergeben. Wenn du zum Beispiel in diese Schule kommst, weißt du, dass es Mut braucht, um all dies zu tun. Ihr selbst kreiert Mut. Mut ist stets eine Möglichkeit. Oft haben Menschen Angst vor Macht, vor der Regierung, vor herrschenden Meinungen. Aber wenn sie nie jemanden sehen, der keine Angst hat, werden sie Mut nicht lernen und ihre Meinung nicht wirklich ändern. Deshalb muss Mut sichtbar sein. Es ist essentiell zu handeln, zu realisieren. Das bedeutet, Mut zu lernen.
KM: Wir flüchten vor der Angst, vor dem Tod vor dem Krieg, vor undemokratischen Regimes, vor Gefängnis. Dann kommen wir hierher und erleben sehr oft Angst. Es ist nicht nur Angst vor der Regierung, sondern auch am Arbeitsplatz, im Asylheim, im Bus, Angst vor Diskriminierung. Was denkst du über unsere Angst? Wie können wir sie überwinden, Mut haben?
AB: Das ist eine schwierige Frage. Um gegen Angst zu kämpfen, muss man stets nach dem Möglichen fragen. Was ist hier und jetzt möglich? Wir haben viele Ängste, weil wir denken, dass wir die Dinge nicht ändern können. Um gegen die Angst zu kämpfen, ist es nötig zu glauben, dass etwas möglich ist. Wenn du an einem einzigen Punkt gegen deine Angst angehst, ist das der Anfang des Endes der Angst. Wenn du einmal mutig bist, ist es leichter, ein anderes Mal auch mutig zu sein. Die Idee ist: den Punkt zu finden, wo Mut möglich ist.
KM: Denken Sie, dass die erwähnte Angst eine kulturelle Angst ist, verursacht von den Leuten in der Schweiz?
AB: Kulturelle Determination? Ich denke nicht. Die Frage des Mutes ist universell. Auch viele Menschen, die perfekt weiss sind, haben Angst. Tatsächlich gibt es neue Möglichkeiten, sich zu fürchten, wenn du fremd bist in einem Land. Aber die Lösung ist dieselbe: Wir müssen den Punkt finden, wo es möglich ist, mutig zu sein.
KM: Wie kann die ASZ ein Beispiel sein für die Eine Welt, über die Sie in ihrer Philosophie sprechen?
AB: Diese Schule in in vielen wichtigen Aspekten ein Beispiel: die Möglichkeit, etwas Neues zu kreieren, etwas über die Kulturen und Nationalitäten hinweg zu kreieren, das für alle positiv ist. Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn ich eure Schule sehe, bin ich mutiger als vorher. Weil ich sehe, dass etwas wie hier möglich ist. Natürlich gibt es Schwierigkeiten, Risiken… Aber es ist möglich. Die wichtigste Frage im Leben ist: Was ist wirklich möglich? Weil viele Menschen denken, ihre Möglichkeiten seien sehr beschränkt, haben sie Angst, etwas Unmöglichem zu begegnen. Wenn wir etwas wie die ASZ schaffen, ist es ein konkreter Beweis: Ihr schafft eine neue Möglichkeit.