AntiNote: Alexandra erzählt von ihrem Besuch in einem Squat in Athen mit einem Frauen_*stockwerk, ihren Erfahrungen und Gesprächen mit Frauen_ auf der Flucht in Idomeni und was Flucht für Frauen_* bedeuten kann. Alexandra ist eine Aktivistin aus Zürich die in verschiedenen autonomen Frauen_*räumen wie der Frauen_*Bar in der Kernstrasse und einer queer-feministischen Frauen_*gruppe aktiv ist.
Wir bedanken uns bei Alexandra für diesen wichtigen Text. Der erschien zuerst in der “Vorwärts” Printausgabe vom 04. März 2016. Wir bedanken uns auch bei Chloe Kritharas Devienne für die Bilder.
Eine Runde von Frauen_* sitzt im Wohnzimmer eines besetzten Hauses. Es gibt Kaffee, Tee, gecontainerten Kuchen und Pistazien. Der Raum ist voll, wir sitzen auf Sofas, die mit Decken wohnlich gemacht wurden und sitzen auf dem Boden, machen es uns bequem. Es wird engagiert diskutiert wie sich die neue anarch_a-feministische Gruppe, der Chronologie des Hauses am Besten vorstellen möchte, und das in zwei Sätzen. “Ist es notwendig, den Begriff «anarch_a- feministische Gruppe» genauer zu erklären und wird daraus klar, dass der Frauen_*Stock auch für Menschen, die sich fernab von Gender-Dualitäten bewegen, offen ist? Gestern Abend kam es zu einem Vorfall weil jemand betrunken Grenzen überschritten hat. Auch darüber wird diskutiert und es wird auch viel gelacht und dabei ernsthaft zugehört; alles so wie immer, wenn sich anarch_a-Feminist_innen treffen?
Fast wie immer, aber nicht ganz. Das besetzte Haus befindet sich im Athener Stadtteil Exarchia und wurde vor einem Monat mit der Idee besetzt, einen Raum für Menschen mit und ohne Papiere zu bieten, die auf ihrer Flucht nach Westeuropa in Athen gestrandet sind und sonst auf der Strasse leben müssten. Ein selbstbestimmter, anarchistischer Ort für Refugees und ihre Unterstützer_innen. Das Haus hat mehrere Stockwerke und im Moment etwa 50 Schlafplätze für Menschen auf der Flucht und Aktivist_innen. Im unteren Stock gibt es eine grosse Küche und einen Aufenthaltsraum für alle. Hier wird jeden Abend gemeinsam gekocht.
Es gibt einen Gratis-Laden, Infomaterial zur rechtlichen Lage bezüglich Asyl in Griechenland und zur weiteren Flucht und es gibt Duschen. Das Haus wird gemeinsam von Menschen mit und ohne Papiere am Leben erhalten und bewohnt. Das Besondere daran ist, im Haus gibt es auch ein ganzes Stockwerk, welches ein Frauen_*Raum darstellt und wo Frauen_* mit und ohne Aufenthaltsstatus miteinander leben. Das ist in Griechenland, so erzählen mir die anderen Frauen_* in der Runde, noch etwas neues und es fühlt sich befreiend an.
Die Runde der Frauen_* ist bunt gemischt: Frauen_* aus Lesben-Gruppen; Queer- und Trans-Aktivist_innen; migrantische Frauen_*; Frauen_*, die zuvor noch nie das Wort anarch_a-feministisch gehört haben; Frauen_*, die in erster Linie einen Schlafplatz suchen und Frauen_*, die seit Jahren Teil der starken, militanten, anarchistischen Bewegung Griechenlands sind.
Ich sitze mittendrin und versuche Sara, einer Frau_* aus Marokko, gerade zu übersetzen, dass jemand gesagt hat, es sei wichtig, dass wir den Raum auch für Trans-Menschen und Menschen, die jenseits der Gendernormativität leben, offen halten. Ich bin überfordert. Wie erkläre ich Sara das erstens auf Französisch und zweitens in möglichst einfachen, klaren Worten, ohne die Komplexität zu verlieren? Es gelingt mir nicht – ich bin aber zufrieden als sie meint: «Ah, c’est pas nécessaire de se décider si vous êtes homme ou femme, vous pouvez être les deux». Genau, irgendwie so haben wir das gemeint
Ein offener, hierarchieflacher Raum, der die Beteiligung aller Frauen_* ermöglicht, bedeutet in diesem Kontext und dem Aufeinanderprallen von verschiedenen Lebensrealitäten eine grosse Herausforderung. Eine stetige Auseinandersetzung mit unseren eigenen Privilegien und Sozialisierungen und sehr viel Erklärungen, wie wir was genau meinen – alles wichtige Dinge wofür hier auf Grund der Lage kaum jemand Zeit hat, aber ohne wird es nicht gehen.
Ich bin über Kroatien, Serbien und Mazedonien nach Griechenland gelangt, nach Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze, wo ich vier Wochen lang war. Dieser Abend in Athen ist der letzte nach fünf Wochen im Balkan.
An der Grenze in Idomeni
Im Grenzort Idomeni kommen täglich zwischen 600 und 5000 Menschen an, welche die Grenze nach Mazedonien passieren wollen. Da mittlerweile nur Menschen aus Syrien und Irak nach Mazedonien gelassen werden, ist die Situation von Menschen anderer Herkunftsländer, meistens Afghanistan, Iran, Marokko oder Pakistan, besonders schwierig und prekär. Sie bleiben an der der Grenze stecken, leben tagelang im Wald und versuchen die Grenze zu Fuss zu überwinden, um dann nach sechs bis zehn Tagen Marsch nach Serbien zu kom-men. Ein weiterer Zwischenhalt ihrer langen Reise nach West-Europa. Dabei erleben die Flüchtenden Polizeigewalt, Kälte, Hunger, Informationsmangel und eine grosse Hoffnungslosigkeit.
Unsere Unterstützung ist kaum mehr als ein sehr kleiner Tropfen, aber ermöglicht es dem einen_ oder der anderen_, die Flucht zu schaffen. Die Flucht in eine noch ungewissere Zukunft in Westeuropa. Auch geschehen Öffnung und Schliessung der Grenze sowie die Aussortierung der Menschen, welche die Grenze eigentlich legal passieren können, oft nach dem Zufallsprinzip. Es gibt mittlerweile strenge Kontrollen der Papiere, Sprachchecks und ein langer Fragebogen mit genau drei richtigen Antworten. So bleiben auch die Menschen, welche die Grenze theoretisch passieren können, oft tagelang im Camp in Idomeni oder an einer Tankstelle im Nirgendwo stecken.
Autonome Gruppen kümmern sich nun bereits seit Monaten um die Verteilung von Kleidern, Tee, Essen und Informationen; sowie um die Überwachung der Praktiken der Grenzpolizei, sowohl an der Tankstelle, im Camp, als auch im Wald. Die Unterstützer_innen selber werden vom griechischen Staat dabei immer mehr kriminalisiert und in der Arbeit behindert, durch Personenkontrollen, Hausdurchsuchungen und Überwachung. Es ist vor Ort spürbar, dass die Grenzen der Festung Europa immer unüberwindbarer werden. Doch was bedeutet dies insbesondere für Frauen_*?
Frauen_* auf der Flucht
Unter den Menschen auf der Flucht gibt es immer mehr Frauen_*. Gemäss Zahlen von Ende Januar 2016 des UNHCR sind fast 60 Prozent der Menschen, die auf einer der griechischen Inseln ankommen, Kinder und Frauen_*. Letzten Sommer waren es nur 30 Prozent, es hat also immer mehr Frauen_ *, welche die gefährliche Reise nach Westeuropa auf sich nehmen, oft mit ihren Kindern.
Flucht birgt für Frauen_* andere Gefahren und Realitäten. Darüber wird wenig gesprochen und noch viel weniger geschrieben. Ich habe im Verlauf der letzten Wochen viele Gespräche mit Frauen_* geführt, in Serbien, in Griechenland, in Idomeni an der Grenze und in Athen. Die Geschichten ähneln sich. Die Frauen_* erzählen von Gewalt, sexueller Belästigung und Angst. Sie werden bedroht und belästigt von Mitreisenden, der Polizei, Schmuggler_innen und ihren eigenen Familen.
Gleichzeitig lastet eine riesen Verantwortung auf ihnen, da sie oft alleine für die Kinder verantwortlich sind und das ganze Familienvermögen auf sich tragen, da landläufig geglaubt wird, es sei sicherer bei Frauen_*. Aysha erzählte mir im «Médecins sans Frontières»-Camp in Idomeni, dass sie sich hier nicht sicher fühlt, weil sie in einem grossen Zelt mit vielen Männern schläft. Sie berichtet, wie sie bereits mehrmals in der Nacht aufgewacht ist und eine Hand an ihrer Brust hatte, oder wie wildfremde Männer sie, wenn sie nachts auf die Toilette geht, belästigen. Fast entschuldigend meint sie: «Aber warum sollte es hier auch anders sein als da, wo ich herkomme oder überall in der Welt».
Ich denke mir, sie hat Recht, strukturelle Gewalt gegen Frauen_* ist Teil unserer Realität, Teil unser patriarchalen Welt. Jedoch ist die Situation der Frauen_* auf der Flucht geprägt von noch mehr Bedrohung und Strukturen, die sie unterdrücken als meine eigene privilegierte Situation. Frauen_* auf der Flucht stehen zum Beispiel oft vor der schweren Wahl, sich entweder alleine oder in Frauen_*Gruppen der (sexuellen) Gewalt auszusetzen oder sich Männern_* anzuschliessen, die sie «beschützen», aber gleichzeitig auch viel Macht ausüben können, was zu mehr (sexueller) Gewalt oder Unterdrückung führen kann.
So oder so sind sie nicht sicher und leiden darum oft stärker unter den Strapazen der Flucht, weil sie kaum schlafen, sich ständig um Kinder kümmern und 24h pro Tag in Alarmbereitschaft sein müssen, um sich selber zu schützen.
Frauen_*, die keine irakischen oder syrischen Papiere haben und nicht im staatlichen Korridor reisen können, sondern systematisch an den Grenzen weggewiesen, verhaftet und möglicherweise abgeschoben werden, erleben diese Realität noch einmal härter.
Schmuggler_innen erpressen die illegalisierten Frauen immer wieder dazu, Sex mit ihnen zu haben, damit die Reise günstiger wird, damit die Reise weitergeht, oder einfach weil sie ihre Macht ausnützen. Viele der illegalisierten Frauen sind gezwungen, auf der Strasse zu schlafen – ein unsicher Ort und sie werden, wenn sie von der Polizei aufgegriffen werden, mit noch mehr Gewalt konfrontiert, beraubt und geschlagen. Viele der Frauen_* sind schwanger. Es kommt erschwerend dazu, dass es untern den Illegalisierten sehr wenig Frauen gibt, was es ihnen fast verunmöglicht, sich gemeinsam zu wehren und einander zu schützen.
Aus diesen Gründen sind Strukturen wie der Frauen_*Raum des Squats in Athen so wichtig. Sie geben Frauen_* die Möglichkeit, sich auszutauschen, über Gewalterfahrungen zu reden und bieten einen sicheren Ort, wo sie etwas zur Ruhe kommen können. Dabei macht in gewissen Bereichen wenig Unterschied, ob die Frauen_* Papiere haben oder nicht, ob sie Aktivist_innen oder Flüchtende sind.
Die Gewalterfahrungen teilen wir, wenn sie sich auch in Stärke und Frequenz unterscheiden, wir teilen die Wut gegenüber der Unterdrückung, die Ohnmacht gegenüber den patriarchalen Strukturen und die Solidarität, die wir füreinander haben. Mir gibt das viel Energie weiter zu kämpfen – für mich und mit den Frauen_* auf der Flucht.
Falls du gerne in Griechenland anpacken möchtest, auch um mehr Frauen_* Strukturen aufzubauen oder die Räume, die in Athen und Idomeni bestehen, finanziell un- terstützen möchtest, melde dich bei Alexandra@ ungehorsam.ch, die dich gerne mit Frauen_* vor Ort verbindet.
DAS WORT FRAUEN_* WIRD BEWUSST SO GESCHRIEBEN, UM ZU ZEIGEN, DASS ES SICH DABEI UM EIN SOZIALES KONSTRUKT HANDELT, DIE AUTORIN ABER MIT DER UTOPIE LEBT, DASS WIR UNS LOSLÖSEN MÜSSEN VON ZWEIGESCHLECHTLICHKEIT UND DEN DAMIT VERBUNDEN PATRIARCHALEN STRUKTUREN.