Das Potenzial und die Grenzen des Anarchismus ausloten: Von einer langen Radtour nach Athen
Von Antidote’s Laurent Moeri
Zweitausendelf war das Jahr der Platzbesetzungen. Von Kairo über Athen bis nach New York, Frankfurt und Zürich ergriffen Bürger ihre Zelte und verschafften ihrem Unmut Platz. Aber nicht nur das: Sie errichteten auch Freiräume, in denen sie sich, fernab von kommerzialisierter Parteipolitik, wieder anmassten, die entleerte Hülle der Demokratie mit Inhalten zu füllen. Die Aufstände gegen die Diktaturen Nordafrikas und die Protestwellen in westlichen Metropolen scheinen auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben. Und doch: Vereint werden sie durch das Verlangen, aufoktroyierte und unterdrückende Strukturen zu durchbrechen.
Während die Neonazis der Goldenen Morgenröte ihre populistischen Aktionen auf dem Syntagma Platz abhalten und eine Volksküche für Griechen betreiben, arbeiten die Anarchisten fernab von den Kameras an einer sozialen Klinik.
Bei einer früheren Reise nach Athen sagte mir eine Anarchistin, sie wisse nicht, ob eine Utopie in Athen entstehen würde, aber sollte eine Utopie am Horizont erscheinen, wäre sie auch von hier aus sichtbar. Gerne werden Anarchisten und Autonome als tollwütige Chaoten dargestellt. Was dabei oft vergessen geht, ist die radikale politische Philosophie, die ihrem Handeln zugrunde liegt: Dass Menschen sich untereinander und ohne Hierarchien organisieren können. Es ist diese Einsicht, welche die sozialen Kämpfe des Nordens mit den Befreiungskämpfen des Südens verbindet. Denn Demokratie steht nicht dafür alle paar Jahre mal einen Zettel in eine Urne zu werfen, sondern für die unmittelbare Beteiligung der Menschen an Entscheidungen, die ihr Leben nachhaltig beeinflussen. Anarchismus wird zur fortschrittlichen Utopie des 21. Jahrhundert und um das Potential und die Grenzen dieser Idee kennen zu lernen, bin ich nach Athen geradelt.
Von Zürich aus, an unzähligen überfahrenen Tiere und an nie enden wollenden Monokulturen vorbei, gelangte ich zuerst nach Venedig und dann nach Triest. Auch in Norditalien war die Krise spürbar, auch dort war sie Gesprächsthema. Sinnbildlich war für mich, der in den Supermärkten in alarmgesicherten Boxen verschlossenen Parmesan. Der kroatischen Küste entlang gelang ich nach Opuzen. Unbedeutend wäre Opuzen vielleicht, wäre nicht ein gewisser Stjepan Filipović dort geboren. Im Alter von 26 Jahren wurde er 1942 als Kommandeur einer Gruppe Partisanen von den Nazis erhängt. Sein Bild unter dem Galgen stehend, mit angelegter Schlaufe und hoch ausgestreckten Fäusten ging um die Welt und ist im Hauptgebäude der Vereinten Nationen zu sehen. “Tod dem Faschismus! Freiheit für das Volk” schrie er noch kurz vor seinem Tode. Das Denkmal zu seinen Ehren wurde im Zuge des Balkankrieges von kroatischen Nationalisten in die Luft gesprengt und wie hunderte antifaschistischer Denkmäler mit Hakenkreuzen und nationalistischen Parolen versehen.
Durch Montenegro, und das gütige Albanien gelangte ich am 4. Dezember nach Athen. Die Megapolis, die weder Schlaf noch geregelten Verkehr kennt, beherbergt in ihrem Zentrum eines der wohl ausserordentlichsten Quartiere Europas. Der Aufstand gegenüber der Militärjunta im November 1973 begründete den Mythos eines rebellischen Stadtteils und rund um dessen Zentrum, der Polytechnischen Universität, entstand Exarchia.
Zuletzt schrieb Exarchia im Dezember 2008 internationale Schlagzeilen. Nach der Ermordung des 15 jährigen Alexis Grigoropoulos durch zwei Polizisten, fiel zuerst Athen und später ganz Griechenland in nie zuvor gesehene Unruhen. Die Dezemberrevolte, wie sie genannt wird, ist ein Schlüsselmoment in der modernen griechischen Geschichte und ohne sie ist weder Exarchia noch Athen noch Griechenland politisch zu verstehen. Seither ist Exarchia ein Labor für soziale Bewegungen geworden, die ihre Theorien in Praxis umzusetzen suchen. Aber Exarchia ist bei weitem nicht die einzige Gegend die seit 2008 grundlegende Veränderungen erlebt hat.
In ganz Griechenland entstanden Nachbarschaftsversammlungen nach dem Grundsatz: “wer hier lebt, soll mitwirken können”. Aus den Nachbarschaftsversammlungen sprossen dann, verstärkt durch das Scheitern der staatlichen Institutionen, wegweisende Projekte einer neuen, solidarischen Wirtschaft. Diese Projekte sind sowohl unverzichtbar wie (noch) ungenügend. Sie zeigen jedoch auf, dass die Krise nicht nur Elend in Form von eklatanter Arbeits- und Obdachlosigkeit und einem enormen Anstieg der Selbstmordrate verursacht, sondern eben auch die Möglichkeit bietet, in die Fussstapfen eines maroden staatlichen Konstrukts zu treten.
Während die Neonazis der Goldenen Morgenröte ihre populistischen Aktionen auf dem Syntagma Platz abhalten und eine Volksküche für Griechen betreiben, arbeiten die Anarchisten fernab von den Kameras an einer sozialen Klinik. Im Keller eines besetzten Hauses werden an jedem Tag verschiedene medizinische Dienstleistungen kostenlos angeboten. Die Klinik wird von Freiwilligen geführt. Manche sind arbeitslose Ärzte, andere kommen an ihren freien Tagen. Behandelt wird jeder und jede. Darüber befindet sich ein Café, dessen Erlöse politischen Gefangenen zugute kommen.
Ein paar Strassen weiter wurde ein Parkplatz in einen Park verwandelt, zahllose Kollektive führen dort gemeinschaftliche Küchen, es werden Kurse für Griechen und Migranten angeboten. Niemand wird ausgegrenzt, alle sind willkommen. Ein Gratisladen nimmt Waren an und platzt förmlich vor lauter Sachen. Alles wird in Exarchia ausgeliehen, alles wird getauscht. Allem voran das vielleicht wertvollste Gut: die Zeit.
Arbeitslose verlieren ihre Arbeit, nicht aber ihre Fertigkeiten und Kompetenzen. Auf dieser einfachen Erkentnis basiert das Projekt der “Zeitbank”. Hier treffen sich Menschen aller Berufe und tauschen ihre Zeit. So kann ein Sanitär seinen Beruf trotz Arbeitslosigkeit weiter ausführen und erhält für jede geleistete Arbeitsstunde eine Art Gutschein. Diesen kann er dann gegen eine andere Dienstleistung einlösen. Jedes Quartier führt seine eigene Zeitbank. Jene von Exarchia enthält derzeit mehr als 170 Angebote. Von Monteuren, Frisören und Übersetzern bis hin zu Psychotherapeuten tauschen hier Fachkräfte untereinander ihre Fertigkeiten aus.
Solidarisches Handeln will jedoch gelernt sein. Darin liegt wohl auch die derzeitige Grenze der sozialen Bewegungen. Handeln abseits von monetärer Belohnung muss trainiert werden. Ein Blick nach Exarchia zeigt auf: Das Aufbauen von alternativen Strukturen ist möglich, aber beschwerlich. Und: Aus der lähmenden Arbeitslosigkeit kann man, im gut organisierten, gesellschaftlichen Verbund, selbst einen Weg finden.
Dieser Text wurde in der ADC “Cicero” Sonderausgabe vom Februar 2014 veröffentlicht.