Marco, Libero!

Sobald sie sich fürchtet, antwortet die Macht immer mit Repression.

Der militante anarchistische Umweltschützer ist seit 24 Jahren ununterbrochen in Haft, ohne Urlaub oder bedingte Freiheit. Gerechtigkeit oder Rache des Staates?

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Wenn ich Marco Camenisch wäre
Von Francesco Bonsaver für die Webseite des Revolutionären Aufbaus (Schweiz)
(Originalpost nicht mehr erhältlich)

Besser sofort klarstellen. Im Titel heisst es «Wenn ich Marco Camenisch wäre». Ich bin es nicht. Und ehrlich, ich glaube nicht, dass ich es je sein könnte. Aus verschiedenen Gründen. Aber nichts hindert daran zu versuchen, sich in den Gefangenen Camenisch hineinzuversetzen, der über 20 Jahre eingesperrt ist Es ist eine gute Methode, um sich Fragen zu stellen und sich eine freie Meinung zu bilden. Besser einige Fragen zuviel als zuviele Gewissheiten, vor allem in dieser Epoche der «absoluten Wahrheiten», die am Einheitsdenken-Tötalitarismus grenzen. Umso mehr, wenn wir von einem sehr heiklen Bereich reden, wie es das Verhältnis zwischen Bürgerlnnen und Justiz ist. Eine gerechte und nicht eine exemplarische Justiz, die über eine Drittperson gegen ein Symbol zuschlägt. Camenisch eine Stimme zu geben, indem seine gerichtliche Geschichte erneut durchgelesen wird, ist ein Mittel um zu Verstehen, in welche Richtung das Verhältnis zwischen Bürgerln und staatlicher Gewalt geht.

Bürgerrechte und Rechtstaat

Das Gefängnis ist eine totalisierende Struktur, die die ganze Persönlichkeit jener konditioniert, die dort eingesperrt sind. So haben es verschiedene illustre Denker beschrieben, nicht zuletzt Michel Foucault. Über den Vollzug der Strafe hinaus, an die Gefängnisinstitution wird der Anspruch gestellt die Menschen zu resozialisieren, um sie erneut in die Gesellschaft einzugliedern, wenn die Strafe zu Ende ist. Ein an sich legitimer Zweck, der aber nicht vor Missbrauchen gefeit ist. Angesichts der enormen Zwangsgewalt, über die der Staat verfugt, kann die Grenze zwischen sozialer Wiedereingliederung und Unterwerfung des Denkens leicht überschritten werden. Falls es keine gesunde soziale Antikörper gibt, und diese in der allgemeinen Gleichgültigkeit erstickt sind.

Ohne zu vergessen, dass die Person als Folge eines gerichtlichen Entscheides eingesperrt wird, der unter Achtung der gültigen Gesetze getroffen wird Und wer hat die Macht, Gesetze zu verabschieden? Die Legislative, bzw die Politiker, die im Parlament sitzen.

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Triumph der Sicherheit

Heute triumphiert in der Politik das Konzept der Sicherheit. Seit den Angriffen des 11. September 2001 wurden nicht wenige Bürgerrechte in Namen der Sicherheit geopfert. Ob es um „Terrorismus“ oder „Kriminalität“ geht, die Sicherheit kommt immer vor den anderen Rechten. Und die Schweiz ist von dieser Verirrung nicht gefeit.

In unserem Land haben sich die Tagungen gelehrter Juristen zum Thema vervielfacht. Zahlreiche Persönlichkeiten, keine subversive, sondern von liberalen Werten inspirierte (siehe, hier, S. 9), stellen Fragen über das heute vorherrschende Konzept der absoluten Sicherheit und seine Folgen für die grundlegenden Prinzipien des Rechtstaates. Die Internierung auf unbestimmte Zeit ist ein Kind dieser sekuritären Logik. Sie wurde nach der Abstimmung auf der Welle der verständlichen Entrüstung des Volkes wegen einer Reihe von abscheulichen und hassenswerten Verbrechen wie jene der Pädophilie oder des sexuellen Missbrauchs eingeführt. Von jenen Stimmenden wissen aber wenige, dass die Norm, die den Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit regelt, nämlich Art. 64, eine vielfältige Liste von Vergehen miteinbezieht, die weit über die sexuellen Verbrechen hinausgeht. Dazu kann er auf jedermann angewendet werden, wenn es um ein Vergehen geht, das mit bis zu maximal fünf Jahren bestraft werden kann. Nämlich praktisch auf alle Straftatbestände. Wie die Bundesbehörde auf ihrer Seite erklärt: «Zur Verordnung der Verwahrung ist nicht das begangene Vergehen bestimmend, sondern eher das zukünftige Verhalten des Täters».

Kurz, er wird nicht für das im Knast bleiben was er getan hat, sondern für das, was man meint er werde tun. Gesucht werden: hellseherische Fähigkeiten.

Die unkritische Akzeptierung dieser Logik birgt schwerwiegende Gefahren für die sozialen und individuellen Freiheiten in sich: vom Prozess für die begangenen Taten zum Meinungsprozess könnte der Schritt kürzer als vorgesehen sein. Auch in der Schweizerischen Demokratie.

Stimmen aus dem Gefängnis

Ohne den Anspruch absolute Wahrheiten zu liefern, sondern um die Debatte auf die Gesellschaft auszuweiten, erzählen wir in diesen Seiten von einem helvetischen Gerichtsfall wo die Grenze zwischen Justiz und Rache des Staates labil erscheint.

Es ist der Fall Marco Camenisch, der militante Anarchist/Umweltschützer, der über 20 Jahre ununterbrochen im Gefängnis ist. Es geht nicht um die Diskussion über seine politischen Ansichten, da man diese ihrem Wesen nach teilen kann oder nicht. Wir werden hingegen seine gerichtliche Geschichte erneut lesen, die für die gegen ein Symbol eingesetzte Zwangsgewalt des Staates exemplarisch ist.

Seit 6 Jahren werden ihm Freigänge verwehrt und seit 3 Jahren die bedingte Freilassung, obwohl er ein Recht darauf hätte nachdem er mit guter Führung zwei Drittel seiner Strafe abgesessen hat. Wenn noch vor zehn Jahren die bedingte Freilassung „automatisch“ war, wird sie heute mit immer schärferen Einschränkungen gewährt. Und das nicht aus präzisen Gründen, sondern auf Grund irrationaler Ängste.

Auch seine Entlassung am Ende der Strafe im Jahr 2018 ist nicht gewiss. Wie auf allen Bürgerlnnen, über ihm schwebt das Damoklesschwert des Art. 64. «Er distanziert sich nicht von seiner Weltanschauung» ist eine der wichtigsten Begründungen womit ihm die Rechtsvergünstigungen vorenthalten werden. Da kommen Zweifel auf:

Wird Camenisch bestraft weil er ein Symbol ist oder für das, was er getan hat?

Nachdem wir einige Begegnungen hatten, erklärte sich Marco Camenisch bereit, uns eines seiner mit den „klassischen“ Medien sehr seltenen Interviews zu geben. Das letzte, und einzige Mal, war für einen Dokumentarfilm des Deutschschweizer Fernsehens. Camenisch war über diesen Beitrag verbittert, da er sich für andere Zwecke instrumentalisiert betrachtet, die den erklärten Absichten der Journalisten überhaupt nicht entsprachen. Seither hat Camenisch keine Interviews mehr gegeben.

Was wir hier präsentieren ist eine Synthese seiner Antworten, das Ergebnis einer Serie von unvermittelt gestellten Fragen. Kurz und gut, es ist kein „astreines“ Interview. Wir haben hingegen eventuelle Gegenseiten nicht angehört. Die offizielle Version der Geschichte von Marco Camenisch ist schon in den Verurteilungen geschrieben, die ihn seit 23 Jahren zwischen den seinen Alltag umgebenden Mauern eingesperrt halten.

EINE KURZE CHRONOLOGIE
1952: MARCO CAMENISCH WIRD GEBOREN.
1979: IST ER AUTOR EINES ATTENTATES AUF EINEN HOCHSPANNUNGSMASTEN.
1981: FÜR DIESE TAT ZU ZEHN JAHREN GEFÄNGNIS VERURTEILT, GELINGT IHM DIE FLUCHT AUS DEM GEFÄNGNIS.
1989: ER WIRD VERDÄCHTIGT EINEN GRENZWÄCHTER GETÖTET ZU HABEN.
1991: NACH ZEHN JAHREN IM UNTERGRUND WIRD ER IN DER TOSCANA NACH EINEM SCHUSSWECHSEL VERHAFTET, EIN POLIZIST UND CAMENISCH WERDEN VERLETZT.
1993: VON EINEM ITALIENISCHEN GERICHT WEGEN VERLETZUNG UND SPRENGSTOFFATTENTATE AUF MASTEN ZU 12 JAHREN VERURTEILT.
2002: AUSLIEFERUNG IN DIE SCHWEIZ.
2004: PROZESS IN ZÜRICH, WO ER FÜR DEN MORD DES GRENZWÄCHTERS ZU 17 JAHREN VERURTEILT WIRD.
2007: NACH DEM URTEIL DES BUNDESGERICHTES MUSS DAS ZÜRCHER GERICHT DIE STRAFE AUF 8 JAHR HERABSETZEN.
2008: ER KÖNNTE FREIE AUSGÄNGE BEKOMMEN.
2012: IM MAI WIRD IHM DIE BEDINGTE FREILASSUNG VERWEIGERT.
2018: IM MAI STEHT DIE ENTLASSUNG AUF STRAFENDE AN.

Wem sein Name nichts sagt, genüge es zu wissen, dass er der politische Gefangene schlechthin ist in der Schweiz. Für die Regierenden und wirtschaftlichen Machtzentren habe ich den Terror in Grossbuchstaben vor mir, dessen Zustand der Gefangenschaft von über zwanzig Jahren eine Warnung sein muss für jene, die seine Ideologie und die Aktionen einer nun lange zurückliegenden Vergangenheit teilen Ich drucke also die Hand dieses Mannes, der kürzlich sechzig geworden ist, schmächtig, von mittlerer Statur und mit einem vom Leben geprägten Gesicht in dem die lebhaften Augen funkeln, wahrend dem Rücken entlang die in einen langen grauen Rosschwanz gebundenen Haare hinunter fliessen. Es genügen wenige Minuten um zu verstehen, dass dieser Mann nicht gebändigt wurde. Wenn jemand meinte, ihn besiegt oder bezwungen zu haben, indem man ihn für Jahrzehnte zwischen vier Mauern sperrt, hat er sich getäuscht.

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Das heilige Feuer hat nie aufgehört in seiner Seele zu brennen, und hat seine Freude am Leben und Lieben genährt und dazu geführt, dass er seinen Überzeugungen standfest treu geblieben ist.

Eine Standhaftigkeit, die nicht mit der unversöhnlichen Ablehnung des Dialoges, von einem dogmatischen Denken diktiert, verwechselt werden darf. Er weicht der Auseinandersetzung nicht aus. Im Gegenteil, sie gefällt ihm. In unseren Begegnungen ergibt sich die Fähigkeit nicht in Zirkelschlüssen zu denken, während die intellektuelle Neugierde vorherrscht, sich für verschiedene Wege und Ideen zu interessieren und sich damit auseinanderzusetzen, ohne dabei sein Denken hinten an zu stellen.

Seit 24 Jahren ununterbrochen im Gefängnis. Aus seiner Zelle heraus pflegt er eine unglaubliche Menge an Korrespondenz mit der halben Welt. Es sind viele, die ihm schreiben, um ihre Solidarität auszudrücken. Mit einigen hat sich im Verlaufe der Zeit eine Korrespondenz brüderlicher Freundschaft entwickelt. Er schreibt eigene Texte oder übersetzt andere, deren Gedanken zu verbreiten seiner Einschätzung nach wichtig ist. Das ist einer der Gründe, wieso sie ihn weiter fürchten und ihn nicht herauslassen wollen. Und doch hätte er ein Recht darauf. Wäre er ein normaler Gefangener, hätte er seit fünf Jahren Urlaube erhalten. Seit zwei Jahren hätte er ein Recht auf die bedingte Freilassung oder mindestens auf Halbgefangenschaft.

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Aber Camenisch ist kein normaler Gefangener, obwohl seine Führung von den verschiedenen Strafanstalten, in denen er „zu Gaste“ war, als gut beurteilt wurde. Camenisch ist ein Symbol. Und vielleicht ist das seine Schuld, wegen der sie sich versteifen, ihm jegliche mögliche Massnahme zur Haftlockerung zu verweigern Es ist egal, dass er vor 12 Jahren, schon fünfzigjahrig und viele Jahre hinter Gittern, öffentlich erklärte: «Aus Gründen der sozialen Verantwortung und Bedürfnisse ist für mich eine Wiederaufnahme der klandestinen bewaffneten Militanz im antiautoritären Kampf schon lange nicht mehr möglich und verantwortbar» Eine Erklärung, die er auch letztes Jahr bestätigt hat. Doch die Kohärenz ist eine Eigenschaft, die ihm alle, Feinde miteingeschlossen, anerkennen. Das wahre Problem ist ein anderes Die Ablehnung der Halbgefangenschaft oder der bedingten Freiheit wird von den Autoritäten begründet, weil Camenisch weiter «Kontakte mit seinen politischen Gesinnungsgenossen pflegt» und «sich nicht von seiner Weltanschauung distanziert».

Sie beschuldigen ihn, sich eine radikale soziale Veränderung herbeizuwünschen, ohne die Gewalt dazu auszuschliessen Egal ob er nun aktiver Teil dieser Gewalt sei oder nicht. Er ist vermutlicher Schuldiger wegen dem was er denkt, und nicht so sehr wegen dem was er tun wird. Für seinen Anwalt Bernard Rambert ist klar, dass Camenisch wegen seinen Meinungen heute noch im Knast sitzt, und nicht wegen den potentiellen Verbrechen die er, wenn befreit, begehen könnte.

Das drakonische Urteil

Das helvetische Justizsystem war noch nie weichherzig mit ihm. Von Anfang an, seit der ersten Verurteilung 1981, wegen einer Reihe von Vergehen angeklagt, worunter das schwerste die Sprengung eines Masten in Graubunden, im Land in dem er geboren wurde, war, verurteilte ein Kantonsgericht den nicht vorbestraften jungen Camenisch zu zehn Jahren ohne Bewährung. Ein „ungerechtes“ und „gelinde gesagt drakonisches“ Urteil, war der Kommentar, der auf der Zürcher Zeitung Tages Anzeiger veröffentlicht wurde. «Derartige Strafen werden üblicherweise nur in Mordfällen oder für bewaffneten Raubüberfall ausgesprochen», schrieb der Kolumnist im Zürcher Blatt.

Also eine exemplarische Strafe, die dem Bündner auferlegt wurde, um vor der Entstehung einer radikalen Bewegung abzuschrecken, in den Jahren in denen die Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern des Nuklearen in der Schweiz sehr hitzig geführt wurde. Ein hartes Urteil, das einen Wendepunkt in seinem Leben darstellte, wie er selbst im hier wiedergegebenen Interview darlegt.

Zehn Jahre Einsperrung sind für jedermann schwer zu akzeptieren, umso mehr für den jungen Rebell. Bei der ersten Möglichkeit schloss er sich einem von anderen Gefangenen organisierten Ausbruch an. Während dem Ausbruch starb ein Gefangniswärter und ein zweiter wurde verletzt. Camenisch wurde von jeglicher Anklage freigesprochen, da er physisch vom Ort der Schiesserei entfernt war und keine Verantwortung hatte, da er an der Planung des Ausbruchs nicht beteiligt war. Es folgten zehn Jahre Untergrund, die mit der Verhaftung nach einem Schusswechsel, in dem ein Karabiniere und Camenisch verletzt wurden, unterbrochen wurden.

Prozessiert, wurde er zu 12 Jahren verurteilt, aber nicht für Mordversuch, denn das Gericht erachtete, dass er nicht zum töten geschossen habe, sondern um den Karabiniere zu entwaffnen, indem er auf dessen Arm gezielt habe.

Athens, Greece

Ein schon geschriebenes Urteil?

Nach zehn Jahren in italienischen Hochsicherheitsgefängnissen wurde er in die Schweiz ausgeliefert, um wegen Mordversuch wahrend des Ausbruchs und Mord an einem Grenzwächter in Brusio (Kanton Graubunden) prozessiert zu werden, der 1989, in seiner Zeit im Untergrund, geschehen ist.

Zwei Monate vorher war sein Vater gestorben, ehemaliger Grenzwächter, dem er, wie auch seiner Mutter, sehr verbunden war. Die Eltern und die erhaltene Solidarität sind der Treibstoff seiner Bildung und der felsenfesten Kohärenz gewesen, die er in langen Jahren der Haft bewiesen hat. Die Polizei hatte also das Begräbnis des Vaters belagert weil sie dachte, dass Marco auftauchen würde. Er kam erst zwei Monate danach, um dem Grab seines Vaters die Ehre zu erweisen und seinen Lieben einen Gruss zu bringen. An jenem Morgen wurde der Grenzwächter Kurt Moser in Brusio mit drei Schüssen getötet. Sofort gab es für die Polizei keine Zweifel: der Schuldige war Marco Camenisch. Auch für die Bundesbehörden gab es keine Zweifel: «Anfangs Dezember 1989 tötete Camenisch in Brusio den Grenzwächter». Ein Schuldspruch, der zwölf Jahre vor dem Prozess geschrieben wurde, der 2004 vor dem Zürcher Geschworenengericht abgehalten wurde. Die verantwortliche Ermittlungsrichterin des Falles war die Tochter des Präsidenten der Elektrogesellschaft, der Camenisch vor 20 Jahren versucht hatte, einen Masten in die Luft zu sprengen. Der Norm halber spricht man von Interessenkonflikt. Nicht im Fall Camenisch.

Der Prozess spielte sich in einem militarisierten Saal ab weil Aktionen der Unterstützer des Bündners befürchtet wurden. Marco Camenisch war nunmehr ein Symbol. Seine persönliche Geschichte, immer kollektiven Bewegungen verbunden, und seine Texte waren in den radikalen Szenen um die Welt gereist. Die Lage als zugeständnisloser Gefangener hatte seinen Ruf, der nunmehr auf dem ganzen Planeten bekannt war, vermehrt.

In den vorhergehenden Prozessen äusserte sich Camenisch nie zu den gegen ihn gerichteten Anklagen und anerkannte als politischer Gefangener dem Gericht keinerlei Autorität an. Im Prozess von Brusio, hingegen, machte er eine Ausnahme „Ich habe ihn nicht getötet“, sagte er wortwörtlich. Wieso er diese unübliche Erklärung abgegeben hat, erklärt er in dem hier beiliegenden Interview. Jener Prozess stützte sich auf Indizien, nicht auf Beweise. Kein rauchender Colt, wie man in den Krimis sagen würde. Was selbst der Staatsanwalt in seiner Schlusserklärung sagte: „Um einen Schuldspruch zu fällen, ist keine lückenlose Beweiskette notwendig. Notwendig ist hingegen, dass die Indizien in ihrer Gesamtheit ein zusammenhängendes Bild ergeben“. Die Verteidigung war diametral entgegengesetzter Meinung. In Abwesenheit sicherer Beweise, sagte der Anwalt Rambert, kann der Zweifel nicht ausgeräumt werden, einen Unschuldigen zu verurteilen. Schlussendlich entschied sich das Gericht für die Version der Anklage und verurteilte ihn zu 17 Jahren Gefängnis. Ein falsches Urteil, denn wie das Bundesgericht im Appell bemerkte, beträgt in der Schweiz die Höchststrafe 20 Jahre. Folglich wurde die Strafe auf 8 Jahre herabgesetzt.

Im Mai 2018, nach 28 Jahren ununterbrochen hinter Gittern, könnte Marco Camenisch auf Strafende entlassen werden Eine voll und ganz abgesessene Strafe, ohne einen Tag Urlaub oder bedingte Freiheit. Etappen, die vom helvetischen System vorgesehen sind, um die soziale Integrierung zu begünstigen wenn eine endgültige Entlassung ansteht, die potentiell traumatisch sein könnte, wenn sie schlagartig erfolgt. Wie jene, die anscheinend für Camenisch vorgesehen ist, im besten Falle.

Denn, im Falle des Symbol-Menschen Camenisch dräut immer die Gefahr der Einkerkerung auf unbestimmte Zeit wie vom Art. 64, allgemein als psychiatrische lnternierung bekannt, des Strafgesetzbuches vorgesehen. Wie für jeden Bürger, wenn man diesem Artikel unterworfen wird, weiss man, wann man ins Gefängnis eintritt aber nicht, wann man herauskommt.

Die Lektüre der Justizgeschichte Camenischs drängt eine Frage auf: Ist es Gerechtigkeit oder eine Rache des Staates? Das Urteil sei euch Leserlnnen überlassen.

INTERVIEW: «Sobald sie sich fürchtet, antwortet die Macht immer mit Repression»

Querfeld Interview mit Marco Cameisch. Seine erste drakonische Strafe, sein Leben im Untergrund, später als Gefangener in Erwartung einer ungewissen Freiheit und die Erklärungen an den Grenzen des “Revolutionären” Anstandes.

Ihre Gedanken fliessen seit zwanzig Jahren frei, aber ihr Körper ist eingesperrt. Wie schaffen sie es, die Kraft zum Widerstand zu erhalten?

Das unbestreitbar Offensichtliche und der Glaube in die Menschheit (er lacht, Anm. d. Red.). Und ohne weiteres stützt mich das, was man „gutes Leben“ mit den Menschen nennt, oder anders gesagt die Solidarität. Um den Dingen auf den Grund zu gehen, muss ich von den Menschen unterstützt werden, die mich gerne haben. Jeder mit seinen Fähigkeiten.

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Nach ihrer Gesellschaftsanalyse, bleibt noch Zeit übrig um die Gesellschaft zu verändern oder sind wir nunmehr der Selbstzerstörung ausgeliefert?

Vielleicht haben wir den point of no return mit dem Nuklearen, den Nanotechnologien und anderen „technologischen“ Erfindungen erreicht, von denen man die enorme zerstörerische Potentialität für die Menschheit unterschätzt. Wie beim Asbest der Fall, aber mit noch grösseren Gefahren. Wenn ich aber finde eine Pflicht gegenüber dem Leben zu haben, dann die Pflicht nie aufzugeben. Solange jemand widersteht, gibt es Hoffnung.

Wie vereinbart sich die Liebe zur Menschheit mit dem Hass gegenüber dem Feind?

Es gibt das Leben, es gibt den Tod. Das ist Teil der Dinge. Aber der Hass muss bekämpft werden. Nicht als ethische Frage, sondern zum Erhalt der Klarsicht. Hass blendet den Geist, verschliesst deine Augen und Ohren. Lenkt vom Wesen der Probleme ab. So denke ich, dass dem Hass in der Lage, in der wir uns befinden, keinen Raum gewährt werden sollte, und auch nicht in den für uns anstehenden Aufgaben. Wenn mir ein Mensch, vielleicht ein jüngerer, sagt: «Die Bullen sind alles Bastarde, ich hasse sie, man muss alle umbringen», antworte ich, dass wir nichts zu teilen haben. Wir können keine bessere Welt wollen und dieselben Schandtaten praktizieren, und alle töten. Ich ziehe den Begriff Wut vor. Wut gegen die Funktionen anstatt den Menschen. Nehmen wir einen Typ wie Bush. Wenn ich den sehe, empfinde ich keinen Hass, sondern Mitleid. Wenn ich aber an die Schäden denke, die er dank der Macht, die er hatte, verursachen konnte, dann kommt Wut auf.

Ohne dass sie es wollten sind sie zum Symbol geworden. Sie sind es für jene, die ihre Positionen teilen, aber auch für die Macht, gegen die sie kämpfen. Belastet sie diese Rolle?

Nicht sehr. Wenn du deinem Denken entsprechend lebst musst du nicht etwas vortäuschen, was du nicht bist. Andererseits kann ich auch nicht die Welt auf meinen Schultern tragen. Das stünde dem entgegen, was ich mir herbeiwünsche, die Selbstbestimmung. Alle Einzelnen müssen mit dem eigenen Kopf denken, entsprechend handeln und die eigene Verantwortung übernehmen. Als Anarchist lehne ich die Figur der Avantgarde oder des Leaders ab. Hingegen ist es normal, im Verlauf des Lebens Konzepte zu entwickeln nachdem man die Meinungen anderer gelesen oder gehört hat. Was aber ganz etwas anderes ist als hörig zu werden Es setzt eine intellektuelle Autonomie, einen kritischen und nicht unterworfenen Geist voraus.

Urlaube, Halbfreiheit oder bedingte Entlassung. Alles Dinge, auf die sie seit Jahren ein Anrecht hätten, und doch fahren sie fort, es ihnen abzulehnen. Haben die soviel Angst von ihnen?

Mein Fall ist nicht besonders. Die Macht hat immer mit Repression geantwortet wenn sie Angst hat. Insbesondere heute leben wir in einem potentiell explosiven sozialen Kontext, der sich mit der Krise immer verschärft. Art. 64 des Strafgesetzbuches, wo jedermann lebenslang eingekerkert werden könnte ohne jeglichen Zusammenhang mit dem Vergehen, ist das Ergebnis dieser in Repression umgesetzten Angst.

2002, vor mehr als zehn Jahren, erklärten sie in einem Gerichtssaal, dass «meinerseits eine Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes weder möglich noch verantwortbar wäre.»

Ich würde sagen, dass meine Erklärung an der Grenze des Anstandes als revolutionärer politischer Gefangener war. Gleichzeitig war es eine Entscheidung auf Grund einer objektiven Analyse meiner subjektiven Voraussetzungen. Eine gewisse Ebene des Kampfes ist nicht mehr machbar nach so vielen Jahren Knast. Nicht so sehr, weil du für den Feind gefährlich bist, sondern weil du es für dich selbst und vor allem für jene bist, die dir nahe stehen.

Und doch glauben sie ihnen nicht oder vielleicht ziehen sie es vor, ihnen nicht zu glauben. Sie halten sie weiter gefährlich für das System. Wieso?

Wir, die wir als Symbole qualifiziert werden, lassen sie nicht raus weil sei uns fürchten wie die Pest, als potentiell ansteckend. Was aber ein Blödsinn ist. Eingekerkert sein verstärkt die Rolle der Symbole. Solange ich auf einem Podest in Ketten stehe, verbreitet sich alles was ich sage in der ganzen Welt. Wenn wir Solidaritätserklärungen von Russland bis Chile und Indonesien erhalten, dann weil wir in der Lage als Gefangene sind, in der sie uns behalten.

2018, nach ununterbrochenen 28 Jahren Gefängnis, sollte ihre Einkerkerung enden. Was fehlt ihnen am meisten von der Freiheit?

Eine eben aus einer längeren Einkerkerung herausgekommene Genossin hat mir gesagt „Es war der traurigste Tag meines Lebens“. Ich fürchte das könnte mir auch geschehen. Du bist für bestimmte Dinge reingenommen worden, stellst Ansprüche und wenn du raus kommst, weißt du, du wirst nicht frei sein, sondern im Knast der aufgezwungenen Gesellschaft leben. An jenem Tag könnte ich also denken: „Es ist schlimmer als ich reingenommen wurde“ oder „Sieh mal an, welch enorme Niederlage“. Andererseits aber, „egoistisch gesagt“, was mir am meisten fehlt ist mit den Menschen zusammen zu sein, zu denen du Liebe oder Zuneigung spürst. In Notlagen kannst du ihnen beistehen, ein Mensch sein, auf den man jederzeit zählen kann. Genau das kannst du nicht wenn du im Gefängnis bist.

Das erste Urteil von 10 Jahren, vielerseits als drakonisch betrachtet, wie stark hat es ihren Weg beeinflusst?

Ehrlich gesagt, ohne nun einen verteidigerischeren Diskurs zu fahren, lag dieses Urteil in der Logik des Kontextes jener Jahre. Vor dem Prozess war ich überzeugt, dass sie mir eine „exemplarische“ Strafe geben würden. Hätten sie mir eine den Massstäben des bürgerlichen Rechts sagen wir mal „angemessene“ Strafe auferlegt, indem sie mir vielleicht die mildernden Umstande der ehrbaren Gründe zugestanden hätten, und mich folglich zu vier Jahren verurteilt hätten, wäre ich nicht ausgebrochen. Und wer weiss, mal draussen, wäre ich im Politikgerede der Zürcher Szenen abgesoffen… (er lacht, Anm d Red) Wahrend der Ausbruch ein entscheidender Wendepunkt in meinem Leben war.

Wie erfährt man zehn Jahre Untergrund?

Es ist hart, vor allem am Anfang. Hast du keine starke innerliche, ideologische und menschliche Stabilität, läufst du Gefahr unterzugehen. Als im Untergrund Lebender lebst du 24h am Tag in der Gefahr ergriffen oder getötet zu werden. Oder töten zu müssen. Das verursacht einen bedeutenden Dauerstress. Gleichzeitig ist es die Periode, in der ich die wahrhaftigste Freiheit geniessen konnte, die du in der Kontrollgesellschaft, in der wir leben, erfahren kannst. Im Untergrund musst du auch recht schnell die Fähigkeit entwickeln, die Menschen einzuschätzen. Und wenn du eine Beziehung eingehst, wird sie hochwertig, solide und intensiv. Im Untergrund leben macht unvermeidlich erwachsen, weil es dich zwingt zu erkennen was richtig und was falsch ist. Du bist zur Selbstbestimmung fähig.

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In Italien wurden sie fur schwere Korperverletzung und nicht Mordversuch verurteilt, weil sie festgestellt haften, dass sie auf den Arm des Karabiniere geschossen haften um ihn zu entwaffnen und nicht um zu toten In der Schweiz wurden sie hingegen wegen Mord verurteilt Belastet sie dieses Urteil?

Es ist logisch, dass die mich angeklagt haben einen Grenzwächter getötet zu haben. Das liegt in der Natur der Dinge. Wenn du die Entscheidung zum bewaffneten Kampf triffst, kannst du nicht leugnen, dass töten oder getötet werden geschehen kann. Du musst die Verantwortung übernehmen. Und auch deswegen angeklagt zu werden, ob es nun wahr oder nicht sei. Aber im Fall Brusio sind sie darüber hinausgegangen. Sie haben ein Werk der denigrierenden und ehrenrührigen Propaganda dazugegeben, mit dem einzigen Zweck die Gründe derjenigen abzuwerten, die sich der Volksrevolution widmen. Sie haben mich beschuldigt, einem am Boden liegenden, unschädlichen, sogar schon toten Menschen einen Kopfschuss verpasst zu haben. Sie haben mich als gemeinen Schlachter gemalt, dem töten und foltern Freude bereitet. Obwohl ich mich zur Anklage nicht äussern wollte, musste ich reagieren. Nicht aus persönlichen Gründen, sondern aus Gründen der Verantwortung gegenüber allen, die denselben Entscheid wie ich vor dreissig Jahren getroffen haben, treffen und treffen werden. Ich habe ihn nicht getötet. Wäre ich der Schlächter, wie sie es sagen, hätte ich die beiden Karabinieri, die mich im Untergrund kontrollieren wollten, in die Stirn geschossen, anstatt den Tex Willer2 zu spielen und zu versuchen sie zu entwaffnen, indem ich denen in den Pistolenarm schoss. Um dann doch verhaftet zu werden.

Sie bestätigen also, den Grenzwächter in Brusio nicht getötet zu haben.

Es ist nicht mein Toter. Als politischer Gefangener, da ich dieses Gericht nicht anerkenne, hätte ich im Saal niemals eine auf die Anklage eingehende Einlassung gemacht. Aber ich kann mit dem stillschweigenden Eingeständnis, bzw. ohne es zu dementieren, diesen Wächter wie ein gemeiner Schlächter getötet zu haben, nicht leben. Solche Dinge schmerzen. Wir sind da noch nicht soweit, dass sie dir eine Vergewaltigung oder einen Kindsmord anhängen, wie gegen GenossInnen auch schon geschehen oder geschehen kann. Wenn sie sagen Camenisch hat einen Grenzwächter getötet, glaubt man, es stimme. Und irgendwie kann ich damit leben. Aber dich als gemeinen Schlächter hinzustellen, der einem schon toten Menschen einen Kopfschuss verpasst, das geht nicht. Es war eine Pflicht ihre Propaganda zu demaskieren.

INTERNATIONALE AKTIONSTAGE MIT MARCO CAMENISCH – 20. – 22. JUNI 2015

Rote Hilfe Schweiz – www.rotehilfech.noblogs.org
Rote Hilfe International – www.rhi-sri.org

Mehr zu und von Marco Camenisch:
http://rotehilfech.noblogs.org/post/tag/marco-camenisch/ (en / dt)
https://www.youtube.com/watch?v=iK1isWg0r3o (fr / en / dt / it / gr)

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