Oh Balkan-Pioniere: Die Anatomie einer Fluchtroute
Das Original auf Englisch ist hier einzusehen
von Ed Sutton für Antidote, übersetzt von Lennart Krotzek
Q.
Vielleicht 20 Jahre alt, wahrscheinlich aber jünger. Kabul, Afghanistan.
Die Busse aus dem Süden Serbiens – dem Grenzlager Preševo (an der serbisch-mazedonischen Grenze), Dimitrovgrad (serbisch-bulgarische Grenze) oder aus Belgrad – erreichen den Transitpunkt in Adaševci gruppenweise. Hier müssen die Busse warten, manchmal mehrere Stunden, manchmal einen halben Tag, bevor sie den Grenzzug in der nahgelegenen Stadt Šid anfahren können. Wenn der Zug ankommt, liefern die Busse die Reisenden am Bahnhof ab. Von dort fährt der Zug in das kroatische Grenzlager in Slavonski Brod.
Während der Busfahrten werden die Passagiere häufig nicht aus den Bussen gelassen, selbst wenn der Fahrer eine Toilettenpause einlegt. Bei der Ankunft empfangen Freiwillige die Ankommenden, verteilen Essen und Hygieneartikel und begleiten sie zur medizinischen Versorgung oder Internetstationen. Ist der Trubel der ankommenden Reisenden einmal vorüber, beginnt das Warten. Langeweile kommt auf. Kinder spielen Fußball auf dem Asphalt, der einmal als Parkplatz vor einem früheren Motel diente. Menschen warten in Gruppen, manche rauchen Zigaretten und unterhalten sich. Sie singen, lachen und tanzen, um ihre Babys von den Strapazen der Reise abzulenken. Und sie trinken einen Becher ultrasüßen Chai nach dem anderen.
Q. hat mich mit einem seiner Kumpels reden sehen und kommt mit ein paar weiteren Freunden im Schlepptau auf mich zu. „Du sprichst englisch“, unterbricht er höflich. „Hast du ein Handy, das mein Freund benutzen könnte? Er muss seinen Bruder in Frankreich anrufen.“
Sein Freund sieht noch sehr jung aus, ist schlaksig und hat unreine Haut. Es ist ihm peinlich, dass er jemanden um einen Gefallen bitten muss, oder noch schlimmer, dass Q. das für ihn tut.
Während sein Kollege aufgeregt mit seinem Bruder in Frankreich telefoniert, berichtet mir Q. über seine bisherige Reise. Er ist ein sehr höflicher und ernster Wirtschaftsstudent und sieht sich für seinen jüngeren Begleiter verantwortlich. Sie sind zusammen über Bulgarien nach Serbien gekommen. Zu Fuß. Keine ungewöhnliche Geschichte. Wald, Gefahren, „Abenteuer“. Böse Polizei. Im Vergleich dazu sind sie glücklich, nun in Serbien angekommen zu sein.
Er berichtet, dass die Polizei mit jedem Land, durch das sie gereist sind, immer weniger brutal geworden ist: Iran, Türkei, Bulgarien, Serbien. Trotzdem sei sie überall aggressiv gewesen. Er fragte mich, ob sich dieser Trend fortsetze, je näher sie Deutschland kämen. Ich sagte ihm, dass ich ihm nichts versprechen möchte, weil das Verhalten der Polizei überall brutal sei, dass das Muster aber mehr oder weniger so stimme.
Sein Kollege kommt mit meinem Handy zurück. Er ist überwältigt und leicht aufgeregt. Von seinem Bruder hat er Zuspruch, Rückhalt und Informationen bekommen. Er wird nach Frankreich gehen.
Q. wird nach Deutschland weiterreisen. Seine Familie in Afghanistan hat seit zehn Tagen nichts von ihm gehört. „Ich werde sie von Österreich aus anrufen“, sagte er schnell, und kommt damit dem Angebot, mein Handy geliehen zu bekommen, zuvor. Das hätte ihn in Verlegenheit gebracht.
Es gibt nicht die eine Balkanroute. Es gibt Routen durch den Balkan, über die es Geflüchtete versuchen. Es gibt Wege, die sie sich bahnen. Ihre Richtungen sind von unzähligen Faktoren abhängig: sozialen, politischen, ökonomischen, persönlichen, emotionalen. In den letzten Monaten hat die Kombination dieser Faktoren zu einem trichterförmig verlaufenden Flüchtlingspfad geführt. Doch nichts ist sicher, keiner dieser Pfade ist definiert.
Die Balkanroute ist keine festgelegte Strecke. Es liegt nahe sie sich als eine solche vorzustellen, als einen tatsächlichen Pfad der von tausenden Füßen, die über ihn laufen, zu einem solchen wurde und der seinen Streckenverlauf nur gelegentlich ändert, wenn ein neuer Zaun gebaut wird, den man aber ansonsten auf einer Karte einzeichnen könnte.
Entlang dieser gezeichneten, oft ausradierten und neu gezeichneten Linie könnte man einen Punkt hier und einen Stern dort einfügen, um die verschiedenen Transitpunkte und Lager, die in den letzten Monaten entstanden sind, zu kennzeichnen. Diese Orte variieren stark hinsichtlich ihres Grades der Improvisation und Institutionalisierung und haben im Umkehrschluss durch ihre Existenz auch ihren Teil zum Verlauf der Route beigetragen.
Aber die Freiwilligen, Aktivist*innen und Geflüchteten an diesen Transitpunkten wissen genau: Es gibt nicht die eine Balkanroute. Der Transitpunkt in Adaševci, Serbien, könnte schon morgen zu einem Lager werden. Es wurden Vorbereitungen getroffen für den Fall, dass Kroatien sich dazu entschließt, die Grenze dicht zu machen. Oder die sogenannte „Bushaltestelle“ könnte einfach ganz verschwinden. Und selbst in der aktuellen Situation, in der der Ort als offizieller Haltepunkt für staatliche Busse dient, ist es naiv anzunehmen, dass alle oder sogar nur die Mehrheit der Geflüchteten über Adaševci reisen.
Die Behörden würden das wohl begrüßen und viele Freiwillige stimmen darin überein, dass dies der sicherste Weg sei. Abseits der Route lauern Schleuser*innen, unlautere Taxifahrer*innen und Kriminelle hinter jeder Ecke, um aus von der Herde getrennten, verletzlichen Kälbern Profit zu schlagen. So widerlich diese Metapher auch sein mag, sie ist keine Übertreibung. Und tatsächlich verstehe ich, warum der umgangssprachliche Begriff für Schleuser*innen in Nordamerika „Koyote“ lautet.
Aber ich schweife ab. Die Balkanroute ist keine eigentliche Route, sie ist ein Ökosystem, ein Organismus. Sie ist ein „Zusammenspiel vitaler Phänomene“. Im Folgenden werde ich dieses Ungeheuer Balkanroute nennen, und des Weiteren vereinfacht von den vitalen Phänomenen als Transitpunkte, Lager, Freiwillige, Geflüchtete, Schleuser*innen, Behörden und Staaten sprechen.
A.
Ende 20. Damaskus, Syrien.
A. war zunächst selber Geflüchteter und wurde dann zum Freiwilligen. Das kommt gar nicht so selten vor. Er hatte sich schon einige Monate in Belgrad aufgehalten, als ich ihn dort an einem unabhängigen Transitpunkt traf. Zu diesem Zeitpunkt bekommt er gerade mit, was es bedeutet Freiwilliger zu sein in einem von drei unabhängigen Arealen für Geflüchtete, das von drei unabhängigen Organisationen geführt wird. Für Geflüchtete ist es ziemlich schwer, in Belgrad einen Platz zu finden, an dem sie bleiben können, geschweige denn eine Gruppe, der sie sich anschließen können. Das gilt selbst für so eine offene und liebenswerte Gruppe wie das Freiwilligen-Team an diesem Transitpunkt. A. hat so einen Ort gefunden. Er hat in Serbien Asyl beantragt, um weiterhin Geflüchteten helfen zu können.
Ich denke es hat eine Weile gedauert, bis er herausgefunden hatte, wie willkommen er hier sein würde. Und auch die Freiwilligen mussten erkennen, dass nicht jeder Geflüchtete, der länger als ein paar Tage in Belgrad verweilt, Schlepper oder Skimmer ist.
Er erzählte mir, dass der Rest seiner Familie nach wie vor in Syrien lebe und dass sie jeden Tag miteinander telefonierten. Er ist überzeugt davon, dass sie in Sicherheit sind, weil sie in einem ungefährlichen Teil von Damaskus leben. Über sein eigenes Leben gibt er indes nicht allzu viel preis. Zu galant ist er dazu. Er scheint auf die Solidarität anderer Freiwilliger zu vertrauen, um als Geflüchteter über die Runden zu kommen. Das ist natürlich vollkommen in Ordnung, aber auch eindeutig gegen seine eigenen Prinzipien.
Das gilt ohnehin für fast alle Geflüchteten, die ich getroffen habe, egal wo sie herkommen. Anstatt Hilfe zu erhalten, würden sie viel lieber selber helfen. Alle Freiwilligen können so eine Geschichte erzählen: Über Geflüchtete, die ihnen die letzte Zigarette anbieten, den letzten Schluck Wasser oder eine Decke, die sie gerade erst bekommen haben. Auch A. brennt darauf, anderen zu geben, statt Hilfe entgegenzunehmen. Eine der Organisationen vor Ort sollte ihn für seine wertvolle Übersetzungsarbeit entlohnen. Das müssten sie ihm aber anbieten. Er selbst würde niemals darum bitten.
Entlang der halb-bekannten Balkanroute von der Türkei nach Griechenland oder Bulgarien, über die unruhigen Länder Ex-Jugoslawiens bis zum gigantischen, hoch-frequentieren Zentrum für Geflüchtete im österreichischen Spielfeld ist eine Reihe von Knotenpunkten entstanden. Dort arbeiten staatliche Behörden, internationale NGOs, staatliche Hilfsorganisationen und unabhängige bzw. autonome Hilfsorganisationen zusammen oder gegeneinander, um Geflüchtete festzuhalten, unterzubringen, zu befreien oder zu informieren.
Ich unterteile diese Knotenpunkte in drei funktionale Kategorien. Auffangpunkte sind die Orte, an denen Geflüchtete auf die Route kommen, oft nach harten Strapazen in einem sehr schlechten Zustand. Die bekanntesten darunter sind sicher die Lager auf den griechischen Inseln wie etwa Kos, Lesbos und Samos. Aber ich würde auch das serbische Grenzlager Dimitrovgrad dazu zählen, wenn man berücksichtigt, was Leute über ihre Reise durch Bulgarien berichten. Transitpunkte sind Orte, die Geflüchtete nur passieren: Die Wartezeit beträgt hier nur ein paar Stunden, keine Tage. Und in Lagern können Geflüchtete schlafen, oder es zumindest versuchen.
An jedem Knotenpunkt hat sich in den letzten Monaten eine umstrittene und fragile Hierarchie zwischen den Institutionen herausgebildet. Überall ist die gleiche Hackordnung zu erkennen: Ganz oben stehen die staatlichen Behörden, dann die internationalen NGOs, staatliche Hilfsorganisationen und schließlich unabhängige und autonome Hilfsorganisationen. Aber die Art und Weise, wie diese Hierarchie vor Ort verstanden wird, ist überall verschieden und verändert sich mit der Zeit. Dazu kommt noch, dass die Position innerhalb der Hackordnung im Allgemeinen genau umgekehrt zum Aufwand der eigentlichen direkten Solidarität und Unterstützungsleistung der Institutionen steht.
Eine Bekannte hat mir über ihre Erfahrungen mit der rigiden Struktur auf einer griechischen Insel, auf der sie geholfen hat, berichtet. Als Teil einer lokalen autonomen Rettungs- und Solidaritätsgruppe, die schon lange bevor es den Begriff Balkanroute überhaupt gab, dort aktiv war, hatte sie viele Nachtschichten gearbeitet. Sie erinnerte sich an eine sture Küstenwache, die manchmal nicht auf Notrufe antwortete und Neuankommende – frierend, nass, hungernd, meistens junge Männer, fast noch Kinder, 14jährige – in gefängnisähnlichen Unterkünften teilweise für Tage festhielt.
Die lokale Unterstützungsgruppe, für die sie arbeitete, hat warmes Essen für die Festgehaltenen gekocht. Um es allerdings zu den Geflüchteten zu bekommen, mussten sie es dem UNHCR übergeben, das es wiederum an das Arrest-Zentrum weitergeben musste. Dort wurden die nun kalten Mahlzeiten von den Aufseher*innen mit ungewürzten Nudeln und Wasser gestreckt und schließlich an die Geflüchteten verteilt. Trotzdem hat die Organisation jeden Tag gekocht, berichtete sie. Ansonsten hätten die Festgehaltenen gar kein Essen bekommen.
Auf der anderen Seite gibt es jene Orte, die so neu oder so versteckt gelegen sind, dass die staatlichen Behörden bisher nicht auf sie reagieren konnten und sie deswegen auch die autonomen Gruppen noch nicht ausschließen oder kontrollieren konnten. In Nord-Italien (nicht unbedingt an der Route selber, aber dahinter, wo die ersten im Rahmen der Dublin-Verordnung Ausgewiesenen aus Deutschland und Großbritannien ankommen) gibt es Orte, auf die diese Beschreibung zutrifft. Und wahrscheinlich trifft sie noch auf viele weitere Orte zu in Ländern, in denen Schlepperei und Menschenhandel rasant zunehmen, auch deshalb weil größere Gruppen von Geflüchteten jenseits des relativen Schutzes der eigentlichen Route zusammenkommen und ausharren. Ein paar unabhängige Aktivist*innengruppen haben sich zur Aufgabe gemacht, diese Orte in den Balkanstaaten ausfindig zu machen, damit sie nicht im Frühling als Massengräber entdeckt werden.
Und dann gibt es noch Bulgarien. Dort gibt es nur die Polizei. Das UNHCR ist hier nicht aktiv. Die einzige Organisation, die „Hilfe“ anbietet ist eine staatliche „Flüchtlingsagentur“, die vor allem aus Polizeibeamt*innen besteht. Unabhängige „Freiwillige“ sind in Bulgarien keine humanitären Helfer*innen, sondern Bürgerwehren: Nationalistische Banden, die Geflüchtete jagen und festhalten und sie schließlich den polizeilichen Behörden übergeben. Die wenigen autonomen Solidaritätsgruppen, die dort operieren, tun dies unter hohem Risiko. Sie helfen in erster Linie dabei, Geflüchtete die zu Fuß unterwegs sind, nachts durch den Wald zu begleiten und vor den Bürgerwehren und der Polizei zu schützen.
W.
Zwischen 30 und 40 Jahre alt. Sinjar, Irak (Jeside).
Ein befreundeter Mitreisender und ich hingen in einem autonomen Transitpunkt im Zentrum Belgrads rum. Wir sind mit ein paar Freiwilligen und Geflüchteten in Kontakt gekommen. „Du siehst heavymetal aus“, sprach mich einer der Jungs an, die gerade in ein heiteres Gespräch vertieft waren.
„Ich fühle mich auch so“, entgegnete ich.
Er stellte sich als W. vor, kommt aus Sinjar, flüchtet vor ISIS und war in seiner Heimatstadt Schlagzeuger einer Death Metal Band. Wo auch immer er am Ende lande – entweder in den Niederlanden oder in Norwegen – wolle er wieder eine Band gründen. Er spricht Arabisch, Kurdisch, Englisch und sogar ein bisschen Deutsch. Und trotzdem möchte er lieber noch eine fünfte Sprache lernen, anstatt dahinzugehen, wo es alle anderen auch hinzieht.
Als uns die Freiwilligenkoordinatorin zu verstehen gibt, dass sie das Tor langsam schließen möchte, verlassen wir das Gelände. W. fragte mich, ob es in den Niederlanden oder in Norwegen Probleme mit Nationalist*innen gäbe. „Im Moment ist das ein Problem in ganz Europa“, entgegnete ich. Er meinte, er könne den europäischen Nationalismus und auch die Angst der Europäer*innen nachvollziehen. Er habe natürlich auch Angst vor ISIS. Auf seiner Reise aus dem Irak hierher hat er viele Geschichten gehört. Die langen Migrationsrouten in Nordafrika und durch Syrien laufen durch von ISIS kontrolliertes Gebiet. Um diesen Weg zu passieren, benötigen die Migrant*innen die Erlaubnis von ISIS oder müssen einen von ISIS selber gestellten Transport nutzen. Andernfalls riskieren sie von ISIS getötet zu werden. W. stellte klar, dass das nicht bedeute, dass alle aus Nordafrika stammenden Migrant*innen Mitglieder von ISIS seien. Aber es bedeutet, dass man mit ihnen in Kontakt komme.
„Oh! Pass auf!“, rief W. plötzlich. Ich duckte mich sofort und entkam nur knapp einer Kollision mit einer Klimaanlage, die auf Kopfhöhe über dem Gehweg hing. Ich habe mich so auf das konzentriert, was W. erzählte, dass ich nicht mehr darauf geachtet hatte, wo ich langlief.
„Du schuldest mir was“, sagte er augenzwinkernd.
Ich sollte zurück nach Serbien gehen, wo es zumindest noch den Anschein von Ordnung gibt. Während meiner Kurzreise habe ich vor allem Transitpunkte kennengelernt, die sich irgendwo in der Mitte der Hierarchie-Skala befinden. Die staatlichen Behörden in Adaševci waren zwar präsent und teilweise bedrohlich – genauso wie UNHCR-Vertreter*innen manchmal auch –, aber den unabhängigen Freiwilligen wurden zumindest gewisse Freiräume eingeräumt, um sich auf eigene Faust zu bewegen und mit den Geflüchteten in Kontakt zu treten. Ganz klar ist aber: So war es, als ich im späten Dezember 2015 dort war. Heute oder morgen kann es dort ganz anders aussehen.
In Belgrad herrschte eine andere Art Hackordnung, die vor allem an dem Transitpunkt, an dem ich geholfen habe, sichtbar wurde. Vermutlich hat das auch etwas mit der urbanen Lage des Punktes zu tun. Dort, genauso wie an allen anderen Orten in Belgrad, sind die staatlichen Behörden quasi unsichtbar, auch wenn sie sich für die Arbeit der Freiwilligen und die Bewegung der Geflüchteten zuständig sehen.
Die Belgrader Polizei bleibt meistens da, wo sie hingehört: In ihren Polizeistationen. Diese Praxis wird von den Geflüchteten willkommen geheißen. Allerdings bedeutet das auch, dass sie, um ihre Reisepapiere zu beantragen, die sie für die Weiterreise nach Adaševci, Šid und Kroatien benötigen, selber zur Polizeistation gehen müssen. Jeden Morgen gibt es vor der zuständigen Station lange Schlangen, die sich schon in der morgendlichen Kälte um 6 Uhr bilden.
Aber Abwesenheit der Staatsbehörden bedeutet nicht unbedingt Abwesenheit der Autorität. Wie bereits erwähnt, teilen sich drei Belgrader Organisationen verschiedene Aufgaben untereinander auf. Für jeden Zweck gibt es einen speziellen Anlaufpunkt: Internet und Infocenter an einem Ort, Vermittlung von kurzfristigen Unterkünften und Zugtickets an einem anderen, und an einem weiteren Ort Versorgung der Geflüchteten mit warmen Getränken, medizinischer Hilfe, Duschen, Schuhen und Winterkleidung. Die Leute, die im letztgenannten Ort das Sagen haben, sind die mysteriösen Leiter*innen eines nahegelegenen, angesagten Kulturzentrums. Hier im schicken Zentralquartier wurde auf dem ziemlich teuren Areal , für das die Verwalter*innen Miete zahlen und was vorher ein eher unorganisiertes autonomes Künstler*innenzentrum gewesen war, der Transitpunkt errichtet.
Die Einrichtung des Transitpunkts hat den Besitzer*innen viel gute Publicity und hohe Summen von Fördergeldern beschert. Beides hat sowohl dazu beigetragen, die Existenz des Kulturzentrums, als auch des autonomen Künstler*innen-Bereichs zu sichern. Zuvor war die Zukunft des Gebiets lange Zeit unsicher.
Wie ich bereits beiläufig erwähnt habe, schließen die Transitpunkte in Belgrad jeden Nachmittag. Das ist ein bisschen merkwürdig, vor allem deswegen, weil die Züge mit den Geflüchteten aus Preševo und Dimitrovgrad rund um die Uhr in Belgrad ankommen. Auch für die Freiwilligen ist diese Praxis ungewohnt. Sie arbeiten am meisten, haben aber kein Mitspracherecht.
Über Silvester und Neujahr war ich in Belgrad und der Hipstervorstand entschied, den Transitpunkt am 1. und 2. Januar komplett zu schließen. Da es für Geflüchtete jedoch keinen „Urlaub“ gibt, haben sich die Koordinator*innen und Freiwilligen kurzerhand selbst organisiert und weitergemacht. Schuhe, Jacken, Decken, Zahnbürsten, Essen und Tee wurden nun in Parks und Bahnhöfen verteilt.
R.
Sicher noch keine 30 Jahre alt. Marokko.
R. ist ebenfalls ein Geflüchteter, der jetzt Freiwilliger geworden ist. Mit seiner Frau lebt er nun seit über einem Jahr in Belgrad. Er hat Verwandte, die schon länger hier sind und durch die er ab und zu an Arbeit gekommen ist. So konnte er sich auch in eine Community integrieren. Er ist außerdem Teil einer Gruppe von Freiwilligen, die einen unabhängig operierenden Transitpunkt in Belgrad am Laufen hält.
„Belgrad ist eine wirklich schöne Stadt“, hat er einmal gesagt, als ich gerade eine Aufnahme von einer der großen Brücken über der Save gemacht habe. Ich schaute ihn an. „Und es ist diesen Winter nicht so kalt wie im letzten.“
Er ist ein positiv denkender Mensch. Vorher hatte er mir über sein Leben als arabisch aussehender Mensch in Serbien berichtet. Das hörte sich gar nicht so positiv an. Er hatte Auseinandersetzungen mit der Polizei und rassistischen Banden. Nach den Attacken in Paris wurde das Haus, in dem er wohnte, durchsucht. Polizisten hielten ihn und einen Verwandten auf der Straße fest. Sie brachten sie in ihre jeweiligen Wohnungen und behaupteten, sie hätten Fotos zugespielt bekommen, die sie als verdächtige Personen belasten würden.
Sie haben R.s Wohnung auf den Kopf gestellt. Seine Frau war auch dabei. Beide wurden verhört und die unwillkommenen Gäste sind erst am frühen Morgen wieder gegangen. Er erzählte mir, dass er versucht hat, den Polizisten zu erklären, dass das, wonach sie suchen, nicht existiere und dass diese traumatischen Erfahrungen, die sie unschuldigen Muslim*innen zufügen, nur dazu führten, dass die Verzweifeltsten zu Extremist*innen würden. Mutiger Mann.
Generell gibt es viel Rassismus in Serbien, sagte er. Vielleicht, weil die Serb*innen bisher so wenig Kontakt zu Menschen mit einer dunkleren Hautfarbe gehabt haben, vermutete er. Er glaubt, dass er als solcher hervorsticht. Er werde angepöbelt und herumgeschubst und habe in den letzten Monaten viel mehr Anfeindungen erlebt als zuvor.
Eines Tages kam ein junger Syrer an einem Transitpunkt in einem Belgrader Park an. Er stützte sich auf eine Krücke. Es war offensichtlich, dass er unheimliche Schmerzen haben musste. Ein paar Geflüchtete hatten ihn in einem mazedonischen Wald gefunden, wo er fünf Tage zuvor von Schleppern geschlagen und zum Sterben liegen gelassen wurde. Sein Bein war gebrochen. Aber er musste sich zunächst registrieren lassen und sich seine Reisepapiere von den serbischen Behörden aushändigen lassen, bevor er in einem Krankenhaus behandelt werden konnte.
R. begleitete ihn zusammen mit ein paar anderen Freiwilligen auf seiner schrecklichen Odyssee. Sie alle zusammen verfügten über die notwendigen Sprachkenntnisse, um den im Delirium arabisch sprechenden Mann durch die widerspenstige serbische Bürokratie zu leiten. R. blieb bis in den späten Abend hinein bei dem Mann im Krankenhaus. Dieser sagte, dass er seine Reise so bald wie möglich fortsetzen wolle und er schon morgen den Zug nach Šid nehmen möchte – wenn sie ihn denn ließen.
Ich kann das gut nachvollziehen.
Die letzten beiden Begriffe, die es noch zu definieren gilt, sind Schlepper und Skimmer. Ich bitte um Verzeihung, dass ich so lange damit gewartet habe. Beide Charaktere sind sowohl auf beiden Seiten der angeblichen Grenze zwischen Geflüchteten und Offiziellen zu finden und beide gibt es in unzähligen Ausprägungen.
Schlepper sind die wirklich schlimmen Typen, wie wir bereits gesehen haben. Was sie von den weniger heimtückischen Skimmern unterscheidet, ist, dass Schlepper Menschen gegen Bezahlung in Aufsicht nehmen und ihnen versprechen, sie zu diesem oder jenem Ort zu bringen. Über Bulgarien berichten Geflüchtete, dass sie 3000 Euro zahlen, um von Safehouse zu Safehouse geschmuggelt zu werden. Dort müssen die Menschen dann häufig mit bis zu 50 weiteren Personen in einem Raum für mehrere Tage in miserablen Zuständen verbleiben.
Gerade letztes Wochenende wurde über 30 Geflüchtete berichtet, die sich aus einem abgeschlossenen LKW-Anhänger in Mazedonien befreien konnten. Schlepper sind dort teilweise, genauso wie in Serbien, LKW- oder Taxifahrer*innen, die mit der Mafia in Verbindung stehen. Täglich gibt es Berichte über Geflüchtete, die hohe Summen zahlen, um von Mazedonien über die Grenze nach Serbien gebracht zu werden und die dann, ohne Geld und orientierungslos, manchmal körperlich misshandelt, im Nichts abgeladen werden. Es gibt auch Berichte über die Schwächsten unter den Geflüchteten, auch Familien mit kleinen Kindern, denen Schlepper viel versprechen, dann aber nur gegen Lösegeld wieder freigelassen werden.
Je nach Ort könnten die Schlepper sowohl den Behörden als auch den Freiwilligen bekannt sein. Je nach Ort stecken sie sogar mit den Behörden unter einer Decke. Eine Freiwillige in Adaševci berichtete mir, dass sie Zeugin der Ankunft von Schleppern in Begleitung eines viel-gesuchten vermissten afghanischen Mädchens wurde. Als Geflüchtete und Freiwillige das Mädchen erkannten, gab es Tumulte. Doch die Polizei befragte die Männer nur oberflächlich und schickte sie wieder weg.
In Adaševci wurde ich auch Zeuge einer dreisteren Art des Skimmings. Es handelt sich um Skimming, wenn Anbieter*innen entlang der Route Falschinformationen weitergeben, gefälschte Bus- oder Zugtickets verkaufen oder andere Wege finden, um Geflüchteten Geld für Dienste abzuknöpfen, die sie ansonsten günstiger oder sogar umsonst erhalten hätten. Die Angaben der ankommenden Geflüchteten über die Preise für das Busticket von Preševo variieren stark, liegen aber auf jeden Fall um einiges höher als die offiziellen Ticketpreise, über die die offiziellen Angaben ebenfalls variieren. Die Busfahrer werden für ihren Knochenjob schlecht bezahlt. Manchmal fahren sie zweimal durch das ganze Land an einem Tag, in alten Bussen, die schlecht instandgehalten wurden. Es scheint, als hätten sie damit begonnen, einfach ihre eigenen Preise festzulegen.
Aber auch manche Geflüchtete betreiben Skimming, und arbeiten manchmal auch als Schleuser. In Belgrad war es eine Aufgabe der Freiwilligen, den Neuankommenden zu erklären, wo sie eine günstige Unterkunft und ein normales Zugticket nach Šid (5 €) bekommen konnten. Betrüger*innen haben leichtes Spiel: Haben sie einmal eine Gratisunterkunft gefunden, können sie auf neu ankommende Geflüchtete an Bahnhöfen und Bushaltestellen warten, und ihnen anbieten, ein Zugticket nach Šid für 60 Euro pro Person zu besorgen. Kein schlechter Deal, und man schadet niemanden. Aber viele Geflüchtete, mit denen ich in Adaševci gesprochen habe, kommen ohne Geld an. Jede*r wollte wissen, ob es stimme, dass die Züge in Kroatien umsonst seien. Ich konnte nur entgegnen, dass ich es hoffe.
E.
Zwischen 20 und 30 Jahre alt. Mosul, Irak.
E. hat sein Englisch in Videospielen und amerikanischen Filmen gelernt. Seine Lieblingslehrerin sei Angelina Jolie, sagte er grinsend. Er berichtete von dem besonderen Tag, an dem er ein paar amerikanische Soldat*innen auf der Straße miteinander reden hörte. Er folgte der Unterhaltung. „Ich verstand, worüber die geredet haben. Ich dachte: ‚Heilige Scheiße, Ich verstehe Englisch!’“
Er und seine zwei Begleiter nahmen die Überland-Strecke von der Türkei nach Griechenland. Sie waren überrascht, wie einfach es war, über die Grenze zu kommen. Sie mussten sich zwar immer noch ein paar Manöver ausdenken, aber das schien eher ein aufregender Spaß für die Gruppe gewesen zu sein.
Doch dann kamen sie nach Mazedonien. An der Grenze von Griechenland nach Mazedonien sah E. einen Mann, der von einem Polizisten in einen Stromzaun gestoßen wurde, nur weil er aus der Reihe getreten war. Das passierte nur wenige Meter entfernt von ihm. „Wie kann man sowas nur einer Person antun?“
Er gehe jetzt nach Schweden, um zu studieren. Ganz egal was, sagte er. Er wolle einfach nur lernen. Das sei alles, was er im Leben tun möchte. Nach der Invasion 2003 habe sein Vater ihm mehr oder weniger verboten, das Haus zu verlassen. So konnte er auch nicht zur Schule gehen. „Ich bin der einzige Sohn mit sechs Schwestern“, stellt er klar, „natürlich wollte er wirklich verhindern, dass mir irgendetwas zustößt.“
E. ist Kurde, spricht vier Sprachen, wird mit Schwedisch eine fünfte lernen, und ist immer für einen Flirt zu haben. Er hat sich in eine Freiwillige vernarrt, die in Adaševci Tee austeilte, und fragte mich zwinkernd, ob ich glaube, dass er eine Chance bei ihr hätte. Bevor ich antworten konnte, scherzte er ironisch-tragisch: „Schade, dass ich mein Handy zur Sicherheit zu Hause in Mosul gelassen habe!“
Q. und seinen Freunden wurden ihre Handys übrigens von der Polizei in Bulgarien abgenommen. Deswegen mussten sie mich darum bitten, meins ausleihen zu dürfen.
Ach Bulgarien. Hier wird das Engagement von autonomen Gruppen am meisten benötigt. Hier sind die Leute auf sich allein gestellt und verzweifeln daran. Ähnliches gilt für Mazedonien, wahrscheinlich bald Albanien und Italien. Und Griechenland. Und Nordfrankreich. Und in Serbien läuft es natürlich auch nicht gut. Oh Mann. Oh Balkan Pioniere! Viele von euch werden bald wohl zurückkehren in die Länder, die ihr gerade erst durchquert habt. Wir geben euch Schuhe, eine Dose Sardinen, Windeln und Babypuder, reden euch gut zu. Und dann schicken wir euch … wohin? In den Dschungel in Calais? In Jahre voller Erniedrigungen und Degradierungen im guten, alten Deutschland – oder doch nur ein paar Wochen, bevor sie euch im Rahmen der Dublin-Verordnungen zurück nach Bulgarien deportieren, obwohl sie es anders versprochen haben?
Das ist der Grund, wieso die Freiwilligenarbeit entlang der Balkanroute immer unzureichend und aussichtslos bleiben wird, so lange die Nationalstaaten sich wie Nationalstaaten verhalten. Das ist der Grund, warum es keinen Sinn ergibt, „Europa“ als einheitliches Gebilde oder die Balkanroute als einen flachen Pfad mit einem Anfang und einem Ende zu sehen.
Ein abschließender Gedanke: Jede*r, die*der den anhaltenden – eskalierenden – Horror in Syrien, Türkei und sonst wo verfolgt, weiß, dass die Anzahl der in Europa Flucht suchenden Menschen in nächster Zeit wohl nicht abnehmen wird. In unserem letzten umfangreichen Artikel über die Balkanroute haben wir gesagt: „Der Winter kommt.“ Jetzt sagen wir: „Der Frühling kommt.“ Jemand muss sich mal um eine Lösung für all die Probleme kümmern. Wir wissen, dass die Regierungen das nicht tun werden. Das bleibt immer noch uns überlassen.
Alle Abbildungen: Szenen in Serbien und Mazedonien, Dezember 2015. Aufgenommen von ungenannten Fotograf*innen, bei Vervielfältigungswunsch bitte unter antidote[at]riseup[dot]net melden.