Einige Gedanken zu Syrien

Ich möchte AnarchistInnen dazu ermutigen sich mit den SyrierInnen zu beschäftigen und jene zu unterstützen, die immer noch in Komitees und Räten arbeiten.

Von Leila Al Shami

Ich wurde gebeten, für das anarchistische Treffen in Tunis, an dem ich leider nicht teilnehmen konnte, eine Übersicht der Ereignisse in Syrien zu verfassen. Das Folgende ist eine leicht editierte Version…

Im Jahr 2011, im Zuge eines Aufstandes, der durch die Mittelmeerregion zog, ­erhoben sich die Menschen in Syrien in gewaltigen Zahlen um das Abtreten des Regimes zu fordern. Es war ein spontaner Volksaufstand, der seine Ursprünge in den benachteiligen ruralen und urbanen Gebieten hatte. Es war eine Antwort auf Jahrzehnte der Diktatur, eines repressiven Polizeistaats, einer mafiösen Elite und der neoliberalen Politik des Baath Regimes, welche weite Teile der Bevölkerung verarmen ließen.

BurningSyria von Tammam Azzam
BurningSyria von Tammam Azzam

Es war eine Bewegung ohne AnführerInnen, die Menschen verschiedener Klassen, Ethnien oder Religionen verband. Junge Männer und Frauen organisierten sich horizontal in den Komitees, die in Dörfern und Städten sprossen, und versuchten die Proteste und den zivilen Ungehorsam zu koordinieren. In den belagerten oder bombardierten Gebieten versuchten sie direkte Hilfe, zu leisten.

Die AktivistInnen in den Komitees koordinierten die Forderungen der Revolution quer übers Land – für den Sturz des Regimes und dem Übergang zu einem demokratischen, konfessionsungebundenen, zivilen Staat. Im Verlauf der Zeit, angesichts zunehmender und schonungsloser Repression durch den Staat, bewaffneten sich die Menschen und organisierten sich in Milizen um Demonstrierende und ihre Gemeinschaften von den Angriffen (des Regimes) zu schützen. Bis ins Jahr 2012 eskalierte die Lage zu einem vollumfänglich, militärischen Konflikt. Auf der einen Seite standen die zahlreichen populären Milizen, lose unter dem Banner der “Freien Armee” vereint und auf der anderen Seite der Staat mit seinen Gangs und seiner Armee.

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Die Revolution in Syrien war die eingehendste aller Länder des “Arabischen Frühlings”. Mitte 2012 hatte der Staat über die Hälfte des Landes keine Kontrolle mehr. In allen befreiten Gebieten und in den neu erschaffenen autonomen Zonen wurden lokale Räte (basierend auf die Ideen des Anarchisten Omar Aziz) gegründet. Diese verwalteten nun das öffentliche Leben, übernahmen grundlegende Dienste, wie Erziehung und Wasserversorgung, bis hin zur Kultivierung eigener Nahrung. Durch Räte und Komitees in befreiten Gebieten ermächtigten sich die Menschen über die nächsten vier Jahre, ihre eigenen Angelegenheiten zu verfolgen und kommunale Solidarität in den kreativsten und praktischsten Weisen auszuleben.

Solche autonome und selbst organisierte Projekte waren möglicherweise mehr durch Not als durch Ideologie angetrieben, aber sie waren Beweis einer wichtigen sozialen Umwandlung, welche die sozialen Beziehungen neu erfand, weg von jenen sozialen Beziehungen auf Hierarchie und Domination basierend, hin zur Ermächtigung der Einzelnen und der Gemeinschaften. Die durch die Revolution frei gewordene Energie führte zur Errichtung hunderter ziviler Organisationen und Kampagnen und einer blühenden, lange Zeit unterdrückten, Kulturarbeit (in den Künsten sowie in kritischen Debatten).

So wie in den anderen Regionen des “arabischen Frühlings”, waren die Kräfte, die sich der Revolution in den Weg stellten, auch in Syrien sehr stark. Assad verwendete Raketen, chemische Waffen und Fassbomben, diese zielten hauptsächlich auf die zivile Bevölkerung in den befreiten Gebieten. Zu Beginn des Jahres 2015 waren mehr als 210’ 000 Menschen umgebracht, und viermal so viele verletzt. Ganze Städte lagen in Ruinen; Häuser, Spitäler, Schulen und Lebensgrundlagen wurden zerstört. Mehr als 150’ 000 Menschen wurden in Assads Kerker festgehalten – hauptsächlich BürgerrechtlerInnen die sich friedlich dem Regime widersetzten. Tausende wurden zu Tode gefoltert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebte nicht mehr in ihren Heimen, entweder innerhalb des Landes vertrieben und versetzt oder ins Ausland geflohen. 65 Prozent der Bevölkerung lebten in extremer Armut und 650’ 000 Menschen waren durch die Belagerung von Gebieten gefangen (z. B. wie das Yarmouk Flüchtlingslager für PalästinenserInnen). Das alles dem Hunger gegenüber stehend, Teil ­der “Verhungern oder Unterwerfen” Doktrin des Regimes.

Fass - von Tammam Azzam
Fass – von Tammam Azzam

Totalitäre und extremistische islamistische Gruppen wie Da’esh (IS) gewannen im Chaos an Stärke und begannen die befreiten Gebiete einzunehmen. Sie gingen dabei gezielt gegen zivile Revolutionäre und die Milizen der Freien Armee vor und begingen abscheuliche Misshandlungen und sektiererische Angriffe. Kriminelle Gangs und die Profiteure des Krieges tauchten auf. Syrien wurde zum Schlachtfeld eines Stellvertreterkrieges, Opfer sowohl sunnitischer und schiitischer Wettstreite als fremder Interventionen. Iranische Truppen und durch den Iran unterstützte schiitisch, dschihadistische Milizen besetzten nun Teile des Landes, das Regime schützend. Ausländische sunnitische Extremisten (einschließlich europäischer KolonialistInnen) strömten herbei um sich Da’esch anzuschließen. Das war der Preis dafür nach Freiheit, verlangt zu haben.

Nichts von dem, was in Syrien seit Ausbruch der Revolution geschah, war unvermeidbar. Die Anhänger des Regimes hatten von Anfang an ihre Absichten bekannt gegeben und kritzelten ihre Botschaften an die Wände in ganz Syrien: “Al-Assad oder wir verbrennen das Land.” Während Russland und Iran dem syrischen Regime unbegrenzte wirtschaftliche und militärische Unterstützung gewährten, erhielt die Freie Syrische Armee nur spärlich Waffen und andere Unterstützung. Diese Unterstützung, hauptsächlich aus den Golfstaaten, kamen mit der Absicht die militärische Auseinandersetzung zu beeinflussen. Dabei wurde Sektierertum behutsam durch die Strategien und politischen Berechnungen des Regimes genährt; zum Beispiel indem alawitische Todesschwadrone in zivile, sunnitische Nachbarschaften eindrangen.

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Storeys – طــوابق
Acrylic on Canvas, 185 X 235 cm, 2015

Die im Exil lebende syrische Opposition (SNC) wurde durch die Interessen der Golfstaaten oder des Westens entführt, und hatte vor Ort nie eine konkrete Bedeutung. Das Schlimmste dabei war und ist, dass die lokalen, syrischen RevolutionärInnen aufgegeben wurden. Dies geschah auch mithilfe eines Großteils ­der internationalen Linken, welche die syrischen RevolutionärInnen als Dummköpfe, barbarische DschihadistInnen oder AgentInnen des Westens verleumdeten.

Eine Ausnahme stellen Syriens KurdInnen dar, welche in ihrem tapferen Kampf gegen die FaschistInnen der Da’esh, internationale Solidarität für die soziale Revolution Rojavas erhielten. Während ­es wundervoll ist diese Solidarität verfolgen, scheint es, um so schwieriger zu verstehen, warum diese Solidarität dermaßen wählerisch vergeben wurde – warum diese Solidarität den KurdInnen Syriens zugesprochen wurde, den AraberInnen Syriens aber abgesprochen. Auch die arabischen SyrierInnen experimentierten mit Selbstverwaltung und auch sie kämpften gegen die reaktionäre Da’esch. Darüber hinaus kämpften sie auch gegen das Regime, ein Kampf, von dem die KurdInnen mehrheitlich verschont blieben.

D.A.F. in Kobane
D.A.F. in Kobane

Syriens RevolutionärInnen, sowohl AraberInnen wie KurdInnen, erkennen die Wichtigkeit eines vereinten Kampfes für Freiheit aller Autoritarismen. Die kurdische YPG und die Freie Syrische Armee vereinten ihre Kräfte um gegen Da’esh zu kämpfen und es gibt viele gegenseitige, zivile, solidarische Bemühungen. Trotzdem sollte sorgfältig zwischen Unterstützung der KurdInnen und Unterstützung der PYD unterschieden werden. Die PYD bleibt – trotz ihrer Behauptung eine ideologische Kehrtwende zum Anarchismus gemacht zu haben – eine höchst autoritäre Partei welche nun in Kontrolle aller Hilfsgüter und Waffen in Rojava ist. Die PYD ist die einzige Partei, welcher es erlaubt ist, eine Miliz zu bilden, und praktiziert sowohl repressive Methoden gegenüber der kurdischen Opposition als auch Zwangsrekrutierungen. Die Frage lautet somit, wie das selbstverwaltete Experiment zu unterstützen ist, das Verbreiten libertärer Idealen zu fördern, ohne eine politische Partei zu stärken, in diesem Fall die PYD, welche die Macht in ihren Reihen zu zentralisieren sucht.

Im Bezug auf Syrien fällt es schwierig optimistisch, zu enden. Viele der ursprünglichen RevolutionärInnen wurden ermordet, wurden gefangen oder flohen aus dem Land. Einige, erschöpft durch den Preis, der von ihnen abverlangt wurde, haben den Kampf aufgegeben, oder wurden durch die Qualen, die sie erleben mussten, in die Arme der ExtremistInnen getrieben. Dennoch bleiben viele, sowohl im Inland als im Exil, die weiterhin für Freiheit und soziale Gerechtigkeit kämpfen.

Ich möchte AnarchistInnen dazu ermutigen sich mit den SyrierInnen zu beschäftigen und jene zu unterstützen, die immer noch in Komitees und Räten arbeiten. Des Weiteren, humanitäre Bemühungen innerhalb Syriens und in den Flüchtlingslagern zu unterstützen, und sich mit Flüchtlingen in ihren Staaten in Europa und anderswo zu solidarisieren.

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Eines Tages werden wir die Bedeutung der syrischen Revolution verstehen. Kafranbel, 2015.

Lernt darüber, was heute in Syrien geschieht und konfrontiert sowohl die Propaganda und Verleumdungen der etablierten Medien, als gewisser Teile der internationalen Linken. Medien und “Linke”, welche zu Apologeten des Massenmord Assads wurden. Was in den Jahren 2010 und 2011 wie ein Augenblick der Hoffnung im Nahen Osten und im Norden Afrikas erschien, hat sich in eine sehr dunkle Periode der Konterrevolution gewandelt. Die Region explodiert in sektiererischen Kämpfen und Kriegen. Jetzt – mehr den je – brauchen AktivistInnen Solidarität und Unterstützung um den Kampf für eine bessere Zukunft fortzusetzen.

Übersetzt von Antidote

Der Text erschien ursprünglich auf Leila’s Blog

2 thoughts on “Einige Gedanken zu Syrien”

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