AntiNote: Nachfolgend ein Interview mit David Graeber über seine Eindrücke aus Rojava.
„Das ist eine echte Revolution“
Interview von Pinar Öğünç für ZNet
26 December 2014 (original post in English)
aus dem Englischen übersetzt von Informationsstelle Kurdistan (ISKU)
(Originalerscheinung nicht mehr verfügbar)
Anmerkung von ZNet: David Graeber schrieb als Professor für Anthropologie an der London School of Economics und Aktivist und Anarchist im Oktober 2014 einen Artikel in der Tageszeitung The Guardian, als der IS gerade begonnen hatte, Kobanê in Nordsyrien anzugreifen. Darin fragt er, warum die Welt die revolutionären syrischen Kurden ignoriere.
Er erwähnt seinen Vater, der 1937 als Freiwilliger in den Internationalen Brigaden zur Verteidigung der Spanischen Republik kämpfte und fragt: “Wenn heute eine Parallele zu Francos vordergründig frommen, mörderischen Falangisten gibt, wer könnte das sein außer der IS? Wenn es eine Parallele zu den Mujeres Libres Spaniens gäbe, wer könnte das sein, wenn nicht die mutigen Frauen, die die Barrikaden in Kobanê verteidigen? Ist die Welt, und diesmal am skandalösesten überhaupt die internationale Linke, wirklich dabei, mitschuldig zu werden und zuzulassen, dass sich die Geschichte wiederholt?“
Laut Graeber wurde die autonome Region von Rojava mit den drei antistaatlichen, antikapitalistischen Kantonen 2011 mit einem „Gesellschaftsvertrag“ ausgerufen und ist damit ein bemerkenswertes demokratisches Experiment dieser Epoche.
Anfang Dezember verbrachte er mit einer achtköpfigen Gruppe von Studenten, Aktivisten und Akademikern aus verschiedenen Teilen Europas und der USA zehn Tage in Cizîrê, einem der drei Kantone Rojavas. Er hatte vor Ort Gelegenheit, die Praxis der „Demokratische Autonomie“ zu beobachten und viele Fragen zu stellen.
Nun berichtet er von den Eindrücken seiner Reise und beantwortet die Frage, warum dieses „Experiment“ der syrischen Kurden von der ganzen Welt ignoriert wird.
Man kann den Kapitalismus nicht loswerden ohne den Staat abzuschaffen, man kann den Staat nicht loswerden ohne das Patriarchat loszuwerden.
ZNet: In Ihrem Artikel für den Guardian hatten Sie gefragt, warum die ganze Welt das „demokratische Experiment“ der syrischen Kurden ignoriert. Haben Sie nun, nachdem Sie es selbst zehn Tage lang erleben konnten, eine neue Frage oder vielleicht eine Antwort darauf?
David Graeber: Nun, wenn jemand irgendeinen Zweifel hatte, ob das wirklich eine Revolution ist oder nur eine Art Werbepräsentation, dann würde ich sagen hat der Besuch das dauerhaft beantwortet. Es gibt immer noch Leute, die sagen: Das ist nur eine Frontorgansiation der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), das ist in Wirklichkeit eine stalinistische, autoritäre Organisation, die lediglich vorgibt, radikale Demokratie übernommen zu haben. Nein. Die meinen es völlig ernst. Das ist eine echte Revolution. Doch gewissermaßen ist genau dies das Problem. Die Großmächte betreiben eine Politik, die besagt, dass es keine echten Revolutionen mehr geben kann. Dabei scheinen viele Linke, sogar radikale Linke, stillschweigend eine Politik übernommen zu haben, die dasselbe annimmt, obwohl sie weiterhin vordergründig revolutionäre Töne von sich geben.
Sie folgen einer Art puritanischen „antiimperialistischen“ Bezugssystem, das von ausgeht, dass die wichtigen Akteure Regierungen und Kapitalisten sind, und dass dies das einzige Spiel sei, über das sich zu reden lohne. Das Spiel, in dem man Krieg führt, mythische Schurken erschafft, Öl und andere Ressourcen unter Kontrolle bringt, Netzwerke von Abhängigkeiten aufzieht – das ist das einzige Spiel im Angebot. Die Menschen in Rojava sagen: Wir wollen dieses Spiel nicht spielen. Wir möchten ein neues Spiel erschaffen. Viele Leute finden das verwirrend und verstörend, also glauben sie, dass es nicht wirklich stattfindet, oder, dass solche Menschen sich etwas vormachen oder unehrlich oder naiv sind.
ZNet: Seit Oktober sehen wir zunehmende Solidarität seitens verschiedener politischer Bewegungen aus allen Teilen der Welt. Es gab eine immense, zum Teil sehr enthusiastische Berichterstattung über den Widerstand von Kobanê durch Mainstreammedien auf der ganzen Welt. Die politische Haltung zu Rojava hat sich im Westen ein Stück weit verändert. Das sind alles ziemlich wichtige Zeichen, aber denken Sie trotzdem, dass demokratische Autonomie und die Versuche in den Kantonen von Rojava ausreichend diskutiert werden? Wie stark dominiert die allgemeine Einschätzung von „einigen mutigen Leuten, die gegen das Böse unserer Zeit, den IS, kämpfen“ diese Zustimmung und die Faszination?
DG: Ich finde es bemerkenswert, dass so viele Menschen im Westen zum Beispiel diese bewaffneten feministischen Kader sehen und sich nicht fragen, von welchen Ideen sie inspiriert sind. Die glauben nur, dass es irgendwie geschehen sein muss. „Ich schätze, das ist eine kurdische Tradition.“ In gewissem Maße ist das natürlich Orientalismus oder einfacher gesagt Rassismus. Die kämen nie auf die Idee, dass Menschen in Kurdistan auch Judith Butler lesen könnten. Im besten Falle denken sie: „Oh, die versuchen sich westlichen Standards der Demokratie und der Frauenrechte anzunähern. Ich frage mich, ob das echt ist oder nur für die Wahrnehmung im Ausland.“ Es scheint denen nicht in den Sinn zu kommen, dass sie diese Dinge viel weiter vorantreiben könnten als „westliche Standards“ es je taten, dass sie vielleicht wirklich an die Prinzipien glauben, die westliche Staaten nur vorgaukeln.
ZNet: Sie erwähnten die Herangehensweise der Linken an Rojava. Wie wird das in den internationalen anarchistischen Zusammenhängen wahrgenommen?
DG: Die Reaktion in den internationalen anarchistischen Zusammenhängen war ausgesprochen uneinheitlich. Ich finde das ein bisschen schwer zu verstehen. Es gibt eine sehr maßgebliche Gruppe von Anarchisten, meistens die eher sektiererischen Elemente, die darauf bestehen, dass die PKK weiterhin eine „stalinistische“ autoritäre, nationalistische Gruppe ist, die Bookchin und andere links-libertäre Ideen übernommen hat, um die antiautoritäre Linke in Europa und Amerika zu umwerben. Das habe ich immer für eine der dümmsten und narzistischsten Ideen gehalten, die ich je gehört habe. Selbst wenn die Prämisse korrekt wäre, und eine marxistisch-leninistische Gruppe beschließt, eine Ideologie vorzugaukeln, um Unterstützung aus dem Ausland zu gewinnen, warum sollten sie ausgerechnet anarchistische Ideen nehmen, die von Murray Bookchin entwickelt wurden? Das wäre der dümmste Eröffnungszug überhaupt. Natürlich würden sie vorgeben, Islamisten oder Liberale zu sein, das sind die Typen, die die Waffen und materielle Unterstützung erhalten. Ohnehin denke ich, dass viele in der internationalen Linken, einschließlich die anarchistische Linke, eigentlich gar nicht wirklich gewinnen wollen. Die können sich nicht vorstellen, dass eine Revolution wirklich stattfinden kann, und insgeheim wollen sie die auch nicht, denn das würde bedeuten, dass sie ihren coolen Verein mit normalen Leuten teilen müssten – sie wären nichts Besonderes mehr. Und deswegen ist es eher sinnvoll, die echten Revolutionäre von den Posern zu unterscheiden. Allerdings sind die echten Revolutionäre standhaft geblieben.
ZNet: Was war das Beeindruckendste, das Sie in Rojava in Bezug auf die Praxis von demokratischer Autonomie erlebt haben?
DG: Es gab da so viele beeindruckende Dinge. Ich glaube nicht, dass ich jemals von einer Situation dualer Macht gehört habe, in der die gleichen politischen Kräfte beide Seiten geschaffen haben. Es gibt die „demokratische Selbstverwaltung“, die alle Formen und Insignien eines Staates hat – Parlamente, Ministerien, und so weiter – doch die wurden bewusst so geschaffen, dass sie von der Vollzugsmacht [Anm. Exekutive] getrennt sind. Dann gibt es TEV-DEM (Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft), von unten nach oben arbeitende Institutionen direkter Demokratie. Schließlich, und das ist das Entscheidende, sind die Sicherheitskräfte rechenschaftspflichtig gegenüber den von unten nach oben gerichteten Strukturen, und nicht umgekehrt. Eine der ersten Orte, die wir besucht haben, war eine Polizeiakademie (Asayiş). Alle mussten Kurse in gewaltloser Konfliktregelung und feministischer Theorie belegen, bevor sie eine Waffe berühren durften. Die Ko-Direktoren erklärten uns, dass ihr Endziel wäre, dass jeder im Lande sechs Wochen Polizeitraining erhält, damit sie die Polizei letztendlich abschaffen könnten.
ZNet: Was würden Sie zu den verschiedenen Kritiken an Rojava sagen? Zum Beispiel „In Friedenszeiten hätten die das nicht gemacht. Es ist wegen des Kriegszustandes …“
DG: Nun, ich denke, dass die meisten Bewegungen, die mit schrecklichen Kriegsbedingungen konfrontiert werden, trotzdem nicht sofort die Todesstrafe abschaffen, die Geheimpolizei auflösen und die Armee demokratisieren würden. Beispielsweise wählen militärische Einheiten ihre Offiziere selbst. [Anm. der im Januar 2014 verabschiedete Gesellschaftsvertrag von Rojava verbietet Folter und Todesstrafe ]
ZNet: Und es gibt einen weiteren Kritikpunkt, der ziemlich populär in den regierungsfreundlichen Kreisen in der Türkei ist: „Das Modell, welches die Kurden, die der PKK und PYD (Partei der Demokratischen Einheit) folgen, voranzutreiben versuchen, wird nicht wirklich von allen Leuten, die dort leben, unterstützt. Die Multi…-Struktur ist nur ein Symbol an der Oberfläche“….
DG: Nun, der Präsident von Cizîrê ist ein Araber, tatsächlich Anführer eines wichtigen lokalen Stammes. Ich nehme an, man könnte argumentieren, dass er nur eine Gallionsfigur ist. Auf eine gewisse Weise ist das die gesamte Regierung. Doch selbst wenn man auf die von unten nach oben gerichteten Strukturen schaut, dann sind es gewiss nicht nur die Kurden, die sich daran beteiligen. Mir wurde gesagt, dass das einzige wirkliche Problem mit einigen Siedlungen des „arabischen Gürtels“ bestehe, also mit Leuten, die hier von den Baathisten in den 1950er und 60er Jahren aus anderen Teilen Syriens angesiedelt wurden als Teil einer auf Marginalisierung und Assimilierung der Kurden ausgerichteten Politik. Einige dieser Gemeinden seien der Revolution wenig freundlich gesonnen, hieß es. Aber Araber, deren Familien dort schon seit Generationen leben, oder die Assyrer, Kirgisen, Armenier, Tschetschenen und so weiter, sind ziemlich enthusiastisch. Die Assyrer, mit denen wir sprachen, sagten, dass sie nach einer langen schwierigen Beziehung mit dem System das Gefühl hätten, endlich ihre freie religiöse und kulturelle Autonomie erhalten zu haben. Vermutlich könnte die Befreiung der Frauen das schwierigste Problem sein. Die PYD und TEV-DEM betrachten sie als absoluten Kern ihrer Vorstellung von Revolution, doch sie haben auch das Problem, größere Allianzen mit arabischen Gemeinschaften einzugehen, die das Gefühl haben, dass damit grundsätzliche religiöse Prinzipien verletzt werden. Zum Beispiel haben die Suryoye [Anm. AssyrerInnen, AramäerInnen und ChaldäerInnen] ihren eigenen Frauenverband, die Araberinnen aber nicht, und arabische Mädchen, die Interesse an einer Organisierung um Genderfragen haben oder sogar feministische Seminare belegen wollen, müssen sich den Assyrerinnen anschließen, oder auch den Kurdinnen.
ZNet: Es muss ja nicht in diesem „ puritanischen ‘antiimperialistischen’ Rahmen“ gefangen bleiben, den Sie vorhin erwähnten, aber was würden Sie zu der Bemerkung sagen, dass der Westen/Imperialismus die syrischen Kurden eines Tages auffordern wird, für seine Unterstützung zu bezahlen. Was denkt der Westen genau über dieses antistaatliche und antikapitalistische Modell? Ist es nur ein Experiment, das im Kriegszustand ignoriert werden kann, während die Kurden freiwillig einen Feind bekämpfen, der übrigens wirklich vom Westen geschaffen wurde?
DG: Oh, es ist völlig richtig, dass die USA und die europäischen Mächte alles daran setzen werden, die Revolution zu untergraben. Das muss man nicht erwähnen. Allen, mit denen ich sprach, war das bewusst. Aber sie haben keinen großen Unterschied gemacht zwischen den Führungskreisen von Regionalmächten, wie der Türkei, Iran oder Saudi-Arabien, und europäisch-amerikanischen Mächten, wie zum Beispiel Frankreich oder den USA. Sie gehen davon aus, dass sie alle kapitalistisch und staatsorientiert sind, und damit antirevolutionär, dass sie bestenfalls überzeugt werden können, [Rojava] hinzunehmen, aber letztlich nicht auf ihrer Seite wären.
Dann wäre da noch die noch kompliziertere Frage der Struktur der sogenannten „internationalen Gemeinschaft“, das globale System von Institutionen wie die UNO oder der IWF, Konzerne, NGOs, Menschenrechtsorganisationen, die alle eine staatliche Organisation voraussetzen, eine Regierung, die Gesetze verabschieden kann und ein Monopol auf die vollziehende Gewalt hat. Es gibt nur einen Flughafen in Cizîrê, und der ist weiterhin unter Kontrolle der syrischen Regierung. Die könnten den ganz einfach übernehmen, jederzeit, sagen sie. Ein Grund warum sie das nicht tun ist: Wie würde ein Nicht-Staat überhaupt einen Flughafen betreiben? Alles, was man auf einem Flughafen tut, unterliegt internationalen Regelungen, die einen Staat voraussetzen.
ZNet: Haben Sie eine Antwort darauf, warum der IS so von Kobanê besessen ist?
DG: Nun, die dürfen nicht als Verlierer gesehen werden. Ihre gesamte Rekrutierungsstrategie basiert auf der Idee, dass sie ein unaufhaltsamer Moloch sind, und ihr beständiger Sieg beweist, dass sie den Willen Gottes verkörpern. Die höchste Demütigung wäre es, von einem Haufen Feministinnen besiegt zu werden. Solange sie noch in Kobanê kämpfen, können sie behaupten, dass die Behauptungen der Medien Lügen sind und dass sie in Wirklichkeit vorrücken. Wer kann das Gegenteil beweisen? Wenn sie sich zurückziehen, gestehen sie damit ihre Niederlage ein.
ZNet: Haben Sie eine Antwort auf das, was Tayyip Erdoğan und seine Partei in Syrien und im Nahen Osten generell versuchen?
DG: Ich kann es nur vermuten. Es scheint, als hätte er von einer antikurdischen Anti-Assad-Politik hin zu einer rein antikurdischen Strategie gewechselt. Immer wieder war er bereit, Allianzen mit pseudoreligiösen Faschisten einzugehen, um jedes von der PKK inspirierte Experiment von radikaler Demokratie anzugreifen. Wie Daisch (IS) betrachtet er das, was sie tun, als eine ideologische Bedrohung, vielleicht die einzige wirklich lebensfähige ideologische Alternative zu rechtem Islamismus am Horizont, und er wird alles tun, sie zu zerstören.
ZNet: Auf der einen Seite gibt es Irakisch-Kurdistan, das auf einer ziemlich anders gearteten ideologischen Grundlage bezüglich Kapitalismus und dem Begriff der Unabhängigkeit beruht. Andererseits gibt es dieses alternative Beispiel von Rojava. Und dann sind da die Kurden der Türkei, die versuchen einen Friedensprozess mit der Regierung aufrecht zu erhalten … Wie sehen Sie persönlich die Zukunft Kurdistans, kurzfristig und langfristig?
DG: Wer kann das sagen? Momentan sehen die Dinge überraschend gut für die revolutionären Kräfte aus. Die KRG [Kurdische Regionalregierung im Nordirak] hat sogar den riesigen Graben aufgegeben, den sie entlang der Grenze baute, nachdem die PKK im August intervenierte und wirksam Erbil und andere Städte vor dem IS rettete. Eine Person aus dem KNK [Kurdistan National Kongress] sagte mir, dass dies dort eine starke Wirkung auf das öffentliche Bewusstsein hatte, dass ein Monat die Arbeit von 20 Jahren Bewusstseinsbildung erzielte. Junge Leute waren besonders erschüttert, als ihre eigenen Peschmerga vom Kampfplatz flohen, während die Kämpferinnen der PKK blieben. Aber es ist schwer vorstellbar, wie das Gebiet der KRG in absehbarer Zeit revolutioniert werden könnte. Ohnehin würden das die internationalen Mächte nicht zulassen.
ZNet: Obwohl die demokratische Autonomie nicht gerade auf dem Verhandlungstisch in der Türkei zu liegen scheint, hat die kurdische politische Bewegung daran gearbeitet, besonders auf sozialer Ebene. Sie versuchen Lösungsmodelle für juristische und wirtschaftliche Themen zu finden. Wenn wir, sagen wir mal die Klassenstruktur und das Niveau des Kapitalismus in Westkurdistan (Rojava) vergleichen mit Nordkurdistan (Türkei), wie würden Sie die Unterschiede zwischen diesen zwei Kämpfen um eine antikapitalistische Gesellschaft, oder um einen minimierten Kapitalismus, beschreiben?
DG: Ich denke, dass der kurdische Kampf in beiden Ländern ausdrücklich antikapitalistisch ist. Es ist deren Ausgangspunkt. Sie haben es geschafft eine Art Formel zu prägen: Man kann den Kapitalismus nicht loswerden ohne den Staat abzuschaffen, man kann den Staat nicht loswerden ohne das Patriarchat loszuwerden. Aber die Menschen in Rojava haben es in Klassenfragen ziemlich leicht, denn die wirkliche Bourgeoisie, so wie sie in dieser hauptsächlich landwirtschaftlich geprägten Gegend war, hat sich mit dem Zusammenbruch des Baath-Regimes davongemacht. Sie werden ein langfristiges Problem haben, wenn sie nicht am Bildungssystem arbeiten um sicherzustellen, dass nicht eine Schicht von entwicklungspolitischen Technokraten bei Gelegenheit versucht, die Macht zu übernehmen, doch aktuell ist es verständlich, dass sie sich eher unmittelbar auf Genderangelegenheiten konzentrieren. Von der Türkei weiß ich nicht annähernd so viel, aber ich habe das Gefühl, dass die Dinge dort viel komplizierter sind.
ZNet: In einer Zeit, in der die Menschen auf der ganzen Welt aus naheliegenden Gründen nicht mehr Luft holen können, hat Sie da die Reise nach Rojava für die Zukunft inspiriert? Was ist Ihrer Meinung nach die „Medizin“ um wieder atmen zu können?
DG: Es war bemerkenswert. Ich habe mein Leben damit zugebracht darüber nachzudenken, wie wir Dinge wie diese in einer entfernten Zukunft vollbringen könnten, und die meisten Leute glauben, ich sei verrückt mir vorzustellen, es könne jemals stattfinden. In Rojava machen sie es jetzt. Wenn sie beweisen, dass es getan werden kann, dass eine wirklich egalitäre und demokratische Gesellschaft möglich ist, dann wird das die Vorstellung der Leute über menschliche Möglichkeiten vollständig verändern. Persönlich fühle ich mich zehn Jahre jünger, nur weil ich dort zehn Tage verbracht habe.
ZNet: Mit welchem Bild werden Sie sich an Ihre Reise nach Cizîrê erinnern?
DG: Es gab da so viele beeindruckenden Bilder, so viele Ideen. Ich mochte wirklich die häufige Gegensätzlichkeit zwischen dem Aussehen der Leute und dem, was sie sagten. Man trifft da so einen Kerl, einen Arzt, der wirklich wie ein etwas furchteinflößender syrischer Militärtyp mit Lederjacke und strengem, hartem Gesichtsausdruck aussieht. Dann spricht man mit ihm und er erklärt: „Also wir denken, dass der beste Ansatz für ein Gesundheitswesen die Vorsorge ist, die meisten Krankheiten werden durch Stress befördert. Wir sind überzeugt, dass wir durch Stressverminderung das Ausmaß von Herzerkrankungen, Diabetes, sogar Krebs reduzieren können. Darum ist unser höchstes Ziel, die Städte so umzuorganisieren, dass sie zu 70% aus Grünflächen bestehen …“ Es gibt da all diese verrückten, brillanten Pläne. Aber dann geht man zum nächsten Arzt, und dort wird einem erklärt, wie sie aufgrund des türkischen Embargos nicht einmal die nötigsten Medikamente oder Geräte bekommen können – alle Dialysepatienten, die nicht herausgeschmuggelt werden konnten, sind gestorben … Diese Diskrepanz zwischen ihren Bestrebungen und den unglaublich ernüchternden Bedingungen. Und … diese Frau, die praktisch unsere Fremdenführerin war, eine stellvertretende Außenministerin namens Amina. Einmal haben wir uns dafür entschuldigt, dass wir keine besseren Geschenke und Hilfe für die Menschen Rojavas mitbringen konnten, die derart unter dem Embargo leiden. Und sie sagte: „Letztendlich ist das nicht entscheidend. Wir haben das, was einem niemand je geben kann. Wir haben unsere Freiheit, Ihr nicht. Wir wünschen uns nur, dass es einen Weg gäbe, wie wir sie Euch geben könnten.“
ZNet: Sie werden manchmal als zu optimistisch und enthusiastisch in Bezug auf Rojava kritisiert. Sind Sie das? Oder haben die Kritiker etwas übersehen?
DG: Vom Temperament her bin ich Optimist, ich suche mir Situationen, die etwas erfolgversprechend sind. Ich glaube nicht, dass es eine Garantie dafür gibt, dass es am Ende klappen wird, dass es nicht zerschlagen wird, doch mit Sicherheit wird es das nicht, wenn jeder im Voraus beschließt, dass eine Revolution nicht möglich ist und sich weigert, aktive Hilfe zu leisten oder gar seine Anstrengungen auf Angriffe gegen sie konzentriert oder ihre Isolation vergrößert, wie es viele machen. Wenn es etwas gibt, dessen ich mir bewusst bin und andere nicht, dann ist es vielleicht die Tatsache, dass die Geschichte nicht zu Ende ist. Die Kapitalisten haben in den letzten 30 oder 40 Jahren mächtige Anstrengungen unternommen, um die Menschen davon zu überzeugen, dass die gegenwärtigen wirtschaftlichen Abmachungen, nicht einmal der Kapitalismus, sondern diese seltsame, am Finanzmarkt orientierte, halbfeudale Form des Kapitalismus, die wir heute haben, das einzig mögliche ökonomische System sei. Hierin haben sie wesentlich mehr Anstrengungen gesteckt, als sie für die tatsächliche Schaffung eines lebensfähigen globalen kapitalistischen Systems getan haben. Als Ergebnis bricht dieses System überall um uns herum zusammen, genau in dem Moment, wo jeder die Fähigkeit verloren hat, sich etwas anderes vorzustellen. Also ich denke, es ist ziemlich offensichtlich, dass in 50 Jahren der Kapitalismus in jeder Form, die wir erkennen können, und wahrscheinlich in überhaupt jeder Form, verschwunden sein wird. Etwas anderes wird ihn ersetzt haben. Dieses Etwas, es wird vielleicht nicht besser sein. Es könnte sogar schlimmer sein. Genau aus diesem Grund scheint es mir unsere Verantwortung als Intellektuelle, oder einfach als denkende menschliche Wesen, zu sein, wenigstens darüber nachzudenken, wie etwas Besseres aussehen könnte. Und wenn es Menschen gibt, die tatsächlich versuchen, dieses Bessere zu erschaffen, dann ist es unsere Verantwortung ihnen zu helfen.