Ein Aufruf zur öffentlichen Debatte mit den deutschsprachigen linken Medien zum Thema “Syrien und die westliche Linke”.
von Antidote Zine
Wir verfolgen seit längerer Zeit wie Linke im Westen den syrischen Konflikt und die syrische Revolution erfolgreich ignorieren. Wir befürchten das der Hauptgrund für diesen Umstand unterschwelliger Orientalismus ist. Progressive Ideen, echte Proteste gibt es – wenn mensch zwischen den Zeilen liest – nur bei uns im Westen.
Diese überhebliche Einstellung führt dazu, das in deutschprachigen Medien vergebens nach den radikalen DenkerInnen Syriens gesucht wird. Die Befürchtung lautet nun, das sie sich die Mühe nicht machen. Sie kennen die Namen der syrischen RevolutionärInnen nicht, sie verleugnen durch ihr Schweigen ihre Existenz.
Wer ist Yassin al-Haj Saleh? Wer ist Razan Zeitouneh? Wer ist das “Raqqa is being silently slaughered” Kollektiv? Wer ist Leila al Shami? Vergebens. Sie existieren nicht.
Auslöser für diesen Blogeintrag sind folgende Erreignisse.
London Damaskus Berlin
Gestern wurden Leila al Shami und Robin Yassin Kassab (AutorIn des Buches “Burning Country – Syrians in Revolution and War”) daran gehindert eine offene Diskussion – zu der sie als Gäste, gemeinsam mit dem syrischen Kurden und Anarchisten Shiar Neyo von der London Anarchist Bookfair eingeladen wurden – abzuhalten.
Selbstgefällige Arschlöcher stürmten die Halle und skandierten den Namen der PKK und ihr Anführer erzählte etwas von “Mesopotamien und Pyramiden”. Die Diskussion wurde handgreiflich und musste abgebrochen werden. Leila und Robin und Shiar wurden als Faschisten bezeichnet. Wer ihre Arbeit kennt dem erübrigt sich die Schlussfolgerung. Wer ihre Arbeit nicht kennt, kann sich hier einlesen.
In den letzten Tagen kam ans Licht, das Rania Khalek, Journalistin für Electronic Intifada, als Ehrengast an einer Diskussion in Damaksus eingeladen wurde. Diese Konferenz ist von Assad organisiert. Dies folgt auf Wochen übler und ekliger Hetzkampagnen von Ihr und verschiedenen Linken gegenüber den “Weisshelmen”.
Das Fass zum überlaufen brachte dann ein manipulativer Artikel der im Lower Class Magazine erschien.
Auf diesen Artikel haben wir dann folgenden offenen Brief, im Namen einer öffentlichen Debatte geschrieben:
Lieber Peter Schaber, Liebes Lower Class Magazine
Willkommen zur Debatte! Schön habt ihr nach 5 Jahren den Weg nach Syrien gefunden.
Euer anti-Imperialismus begrenzt sich ja eher auf den westlichen Typus. Für russische und iranische Aspirationen habt ihr hingegen anscheinend unterschwellige Sympathien. So offensichtlich wie in diesem Artikel war es aber noch nie.
Eure offensichtlich orientalistischen Attitüden widerspiegeln lediglich wen ihr für die “Guten Jungs” und wen ihr für die “Bad Boys” der Nationalstaaten haltet. Insgesamt taugt dieser Artikel gerade mal genug um in einem Boulevard-Propaganda-Blatt zu erscheinen.
Wir alle sind müde von der Boulevard Presse und natürlich ist es immer eine Frage woher mensch seine Informationen erhält. Wir bei Antidote haben seit jeher Kontakt mit syrischen und kurdischen AnarchistInnen und anderen Radikalen vor Ort und im Exil.
Ihr ignoriert 40 Jahre Geschichte (um gnädig zu sein) um eure Argumentationskette verfolgen zu können. Yassin al-Haj Saleh schrieb: “Das Problem ist, durch ihre enge, anti-imperialistische Weltanschauung sehen sie nur Obama, Putin, Holland, Erdoğan, Khamenei, König Abdullah, Hassan Nasrallah, und Bashar al-Assad (…)
Wir, gewöhnliche SyrierInnen, Flüchtlinge, Frauen, StudentInnen, Intellektuelle, MenschenrechtsaktivistInnen, politische Gefangene … existieren nicht.”
Echte Proteste gibt es nur im Westen. Progessive Ideen auch. Wenn sich die Menschen in Syrien erheben, ist es offensichtlich eine NATO/CIA Verschwörung. Ihr ignoriert einfach mal so (weil es in euer Schema passt) dass die USA nie darauf bestrebt waren Assad gestürzt zu sehen.
Wie stark seid ihr eigentlich vom Orientalismus vergiftet? Ihr diffamiert den unbändigen Drang nach Freiheit einer ganzen Bevölkerung – und spielt es runter – entweder als islamistischen Terrorismus oder instrumentalisierten Spielball der Geopolitik oder aber – und das am liebsten – als hilflose Opfer/Flüchtlinge. Es tut gut auf dem hohen Ross andere zu verunglimpfen. LCM hat angesichts ihres Schweigens zu Syrien sowohl ihre Glaubhaftigkeit als auch das Mitspracherecht verloren.
Wie Leil-Zahra Mortada ironisch schrieb: “Žižek [und die Europäische Linke im Allgemeinen] haben den Menschen in Syrien und Ägypten eine Menge beizubringen. Die Europäische Linke als Ganze hat viel mitzuteilen. Ich meine, Europa hat sich seit Jahrzehnten erhoben und die Siege der europäischen Linken sind eine Quelle globalen Neids. Žižek selbst hat die Barrikaden angeführt und einen Speer ins Herz des Neoliberalismus seines eigenen Landes gebohrt.“
Tatsächlich, hat die Linke im Westen ausser Niederlagen nichts vorzuweisen. Während eine ganze Region neue Realitäten schafft, so unbequem diese – zur Zeit – auch sein mögen, verschanzt Ihr Euch hinter Parolen geprägt von Privileg und Unwissen.
Und dann besitzt Ihr und Peter noch die Frechheit, uns und Euren eigenen LeserInnen – vorzuwerfen, das wir gewisse Leben über andere stellen. Uns – Menschen von überall – die den revolutionären SyrierInnen seit Jahren eine Schulter und ein Ohr und ein Sprachrohr bieten. Nachdem ihr erfolgreich 6 Jahre lang 500’000 Menschenleben einfach ignoriert habt? An Heuchelei ist das wohl kaum zu überbieten. Dies ist dermassen perfide und manipulativ, dermassen heuchlerisch, das es nur durch Ignoranz entstehen konnte. Wir bieten Euch deshalb hiermit an, eine für alle ersichtliche, öffentliche Debatte zum Thema “Syrien und die westliche Linke” zu führen.
Als LCM mit seiner Arbeit begann waren wir äusserst enthusiastisch. Nun schreiben wir Euch weil es uns schmerzt verwirrte GenossInnen zu sehen. Unsere Kritik wächst somit aus Empathie.
Wir beklagen den Zustand der westlichen Linken. Ja. Gerne würden wir uns allen Honig auf die Brust schmieren. Vergebens.
Es stört uns das keine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet. Und ja wir klagen an: Es wurde keine Analyse von Unten über den syrischen Konflikt und über die Revolution verfasst. Weder das LCM und schon gar nicht die Junge Welt hören den syrischen Radikalen zu. Vor allem die Junge Welt zeugt immer wieder von eklatantem Euro-Zentrismus.
Der Kern unseres Vorwurfs liegt darin; Linke in Europa wollen das Ausmass der Revolution in Syrien nicht begreifen, nicht sehen. Sie ignorieren all die fundamentalen Veränderungen die von Unten angetrieben wurden. Kein Wort über die “Local Coordination Committes”, die überall wo der Staat sich zurückziehen musste, entstanden sind. Kein Wort darüber dass über 400 Lokale Grämien in diesem Augenblick direkte Basisdemokratie ausleben. Sie ignorieren die Bedrohung die die Syrische Revolution dem Gebilde des Nationalstaates post Sykes-Picot darstellt.
Aber schlimmer, viel schlimmer, sie ignorieren den menschlichen Aspekt der Revolution. Die Jahrzentelange Unterdrückung, und sie ignorieren die Stärke des Aufstandes, der keinen Waffenstillstand vorbeigehen sieht ohne hunderte von friedlichen Demonstrationen. Maarat al-Numan protestiert seit 200 Tagen gegen IS, Assad und Al-Nusra aber von LCM nur das grosse Schweigen. Hörst du genau hin, hörst du die Grillen zirpen.
Während in der ganzen Region die grössten Veränderungen seit dem spanischen Bürgerkrieg vollziehen, hören wir von ihnen nur Rojava, als ob Syrien zugleich dort beginnt und endet.
Wir bei Antidote haben seit jeher beschlossen, unsere Verbündete vor Ort zu suchen, und massen uns selten an, in ihrem Namen zu sprechen (so wie jetzt). Als Verbündete geben wir ihren Stimmen Gewicht. Dies ist so weil wir uns nicht für besser als sie halten. Wir glauben nicht das politische Bildung an den Grenzen Europas aufhört, eine Haltung die bei vielen Linken im Westen implizit ist. Islamophobie und “Orientalismus in Reverse” sind in unseren Bewegungen leider keine Fremdwörter.
Dabei wäre es so einfach: Peter Schaber beklagt den Zustand, das die Medien sich bei der Schuldzuweisung auf Assad und Russland konzentrieren. Nun; da Assad und Putin sieben mal mehr Menschen als der IS und zwanzig mal mehr Menschen als die Opposition umbringen, ist das ja nur konsequent. Dieser Gedanke mag zynisch sein – aber er ist wichtig.
Die unserer Meinung nach zuverlässigste Quelle was Menschenrechtsverbrechen in Syrien anbelangt ist das Violation Documentation Centre. Gegründet und tatkräftig geführt wurde es u.A. von Razan Zeitouneh. Das VDC hat von Anbeginn alle Vergehen dokumentiert (die es konnte) sowohl von Regimeseite als auch von der Opposition.
Im Dezember 2013 wurde Razan und ihr Ehemann, sowie 2 Kolleginnen u.A. die Frau von Yassin al Haj Saleh von (höchstwahrscheinlich) der Jaysh al Islam entführt. Dies weil sie auch gegen die Verbrechen dieser Gruppe berichteten. Über ihren (auch bekannt als die #Douma4) Zustand ist seither nichts bekannt. Yassin war 16 jahre in Assad’s Kerkern, weil er teil der kommunistischen Opposition war. Sein bruder wurde vom IS ermordet, seine Frau entführt. Schon mal von ihm auf LCM gehört?
Wir beklagen den Umstand, die tiefgehendste Revolution im Nahen Osten zu ignorieren. Und wir beklagen die Tendenz, die Authenzität der Proteste und der Missstände im Namen eines veralteten Denkmodels aus dem kalten Krieg zu diffamieren.
Wir haben eine erste kleine Sammlung an Texten auf Antidote zusammengestellt für jene die noch bereit sind, ihre vorgefassten Meinungen zu überdenken und den radikalen DenkerInnen und Akteure der Region zuzuhören.
Traurig aber wahr, der Zustand vieler unserer Bewegungen in Europa ist bedenklich. Syrien ist die Belastungsprobe an dem dies deutlich wird. Wir können es leider nicht anders formulieren. Fantasien von Wüstenvölker, und Islamophobie, sind weit und tief in der westlichen Linken zu finden.
Würden SyrerInnen schwarze Kapuzenpullover und nicht Kopftücher (als ob) tragen, würden die krassen Linken in Europa, ihnen “vielleicht” zuhören.
In der Zwischenzeit lasst uns alle blind den Namen einer politischen Partei skandieren!
Eine kleine Ressourcensammlung
Speziell hervorheben möchten wir diesen kurzen Bericht von Submedia.tv der den schmalen Grat zwischen Verherrlichung und Kritik der Rojava Revolution äusserst erfolgreich geht:
Decolonizing Anarchism by Budour Hassan (Palestine)
Syrien und die westliche Linke von Yassin al Haj Saleh (Syrien)
Einige Gedanken zu Syrien von Leila al Shami (Syrien)
A people’s history of the Syrian Revolution by Joseph Daher (Schweiz/Syrien)
Syria, European pseudo-Leftists, and Žižek – Leil Zahra Mortada (Ägypten)
The Life and Work of Anarchist Omar Aziz von Leila al Shami (Syrien)
Ein Gespräch mit dem syrischen Anarchisten Nadir Atassi (Syrien)